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Blue Notes für Kuttenträger

 

Der Pianist Jens Thomas auf dem Highway To Jazz: Wenn Rockklassiker von AC/DC zu poetischer Kammermusik werden, ist es den einen zu seicht, den anderen zu spröde. Na, und?

© Steven Haberland

Die Debatte ist so vorhersehbar wie absurd: Wenn ein Jazzmusiker Material aus Pop, Rock oder Schlager verarbeitet, schreien selbst ernannte Lordsiegelbewahrer des wahren Jazz auf, er biedere sich an den Mainstream an. Dabei haben Jazzmusiker schon vor 100 Jahren alles verwurstet, was ihnen unter die Finger kam; das Mischen von Genres ist geradezu das Wesen des Jazz.

Klar, wenn Jens Thomas Auszüge von Ennio Morricone spielt oder sich mit Christof Lauer der Songs von Sting annimmt, dann bringt das ordentliche Verkaufszahlen. Doch die genannten Alben ernteten auch hymnische Kritiken und europaweite Auszeichnungen, weil sie eben nicht kommerziell waren im Sinne von „ausgerichtet auf den Publikumsgeschmack“.

Mittlerweile hat Thomas noch einige Gänge an Komplexität zugelegt. Wem sollte sich seine jetzt vorliegende Beschäftigung mit Songs von AC/DC auch anbiedern – den langmähnigen Kuttenträgern? Die dürften sich ob der reichlich spröden Musik schwer veräppelt fühlen.

Zu Beginn des Jahrtausends machte sich Jens Thomas einen Namen als große Hoffnung am Klavier des jungen deutschen Jazz, aber dann kam Othello dazwischen. Den inszenierte Luk Perceval an den Münchner Kammerspielen, Thomas improvisierte dazu. Dabei entdeckte er seine Stimme, wie er sagt: „Ich habe schon immer, wie viele Pianisten, innerlich mitgesungen. Durch die emotionale Wucht der Theaterarbeit drang plötzlich meine Stimme wie von selbst ans Tageslicht.“ Thomas bastelte sich einen eigenen Stil, bassig, mit rezitativen Elementen und Falsett- und Obertonversatzstücken.

Einige Hamlets, Medeas, Workshops, lyrische Performances und das Literaturraprockjazz-Album Goethe! Gesang der Geister später knüpft Thomas einerseits da an, wo er mit Morricone und Sting schon mal war. Andererseits schöpft er aber auch aus dem Vollen seiner Theatererfahrung: Das ist nicht nur Musik, was er da auf Speed Of Grace treibt, das hat auch viel von Drama und Performance.

Warum AC/DC? Sein Bruder, erzählt Jens Thomas, „war der totale AC/DC-Fan, und ich habe das lange mitverfolgt. Dann habe ich das aus den Augen verloren, weil ich mit den neueren typischen Heavy-Metal-Sachen nichts mehr anfangen konnte. Bis ich vor drei Jahren auf einer Party It’s A Long Way To The Top hörte. Diese Intensität und dieses fast Schamanische haben mich umgehauen.“

Das Schamanische hat es dem Pianisten, der bei Dieter Glawischnig an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg studiert hat, ohnehin angetan: Laut seiner Homepage widmet er sich auch der „Verbindung von schamanischer Heilarbeit und musikalischer Improvisation“. Dazu hat er unter anderem eine Schule der Geistheilung absolviert. Das klingt ein bisschen spinnert, zeitigt aber, angewandt auf die Songs von AC/DC, ein frappante Wirkung.

Thomas unterzieht Kracher wie Highway To Hell, Live Wire oder T.N.T. einer Geistheilung, destilliert aus ihnen ätherische Gebilde, durch die die Skelette der Brüder Angus und Maclcolm Young spuken und in denen das Ektoplasma des 1980 verstorbenen Bon Scott wabert. Thomas‘ Stimme säuselt durch halllastige Dekonstruktionen rock’n’rolliger Riffs. Die rasch hingeworfenen Hardrock-Texte gewinnen so eine neue Bedeutsamkeit, vor allem, wenn der Finne Verneri Pohjola seine mal hauchende, mal strahlende Trompete ins Spiel bringt.

Die Festzeltfeger der australischen ewigen Schuljungs verbrämt Jens Thomas zu poetischer Kammermusik. Man muss das Ergebnis nicht gut finden. Aber schon einen ausgesprochen beschränkten Jazzbegriff verfechten, um sich darüber aufzuregen.

„Speed Of Grace“ von Jens Thomas ist erschienen bei ACT. Unter diesem Link finden Sie Hörproben vom neuen Album.