„Wer hat schon Lust zu denken, wie sie denken, die uns hassen?“ Auch das zwölfte Album der Berliner Band Mutter stellt die richtigen Fragen zum Menschsein, zwischen punkrockkurz und pophymnenbreit.
Wahrhaft maßgeblich zu sein, über den Augenblick des Hörens hinaus bedeutsam, nicht gerade kommerziell, aber atmosphärisch erfolgreich – das gilt in den Höhenlagen der Popkultur als höchste Auszeichnung.
Erst soziokulturelle Relevanz adelt profane Bands zu wirklich erhabenen. Zu dumm, dass sie manchmal kaum jemand kennt. Wie Mutter. Die Band. Das muss man schon hinzufügen.
Allein den Namen des Berliner Quartetts zu googeln bedarf spezifischer Begleitbegriffe. Auf Wikipedia erscheint er nicht mal im automatischen Trefferangebot. Es ist also nicht so einfach, von dieser maßgeblichen, über den Augenblick des Hörens hinaus bedeutsamen, nicht gerade kommerziell, aber atmosphärisch erfolgreichen Band Notiz zu nehmen.
Dabei hat sie, was arg akademisch „Diskurspop“ genannt wird, kaum weniger geprägt als, sagen wir, Blumfeld. Dessen Bauchhirnseele Jochen Distelmeyer sagt daher in einem Dokumentarfilm über Mutter vor Ehrfurcht ungewohnt ungeschliffen, „später werden die Leute merken, hier, das hat kein Schwein wahrgenommen, das ist aber das Geilste gewesen“. Womit er völlig recht hat. 1986, als die Band aus einer Gruppe namens Campingsex hervorging, ebenso wie heute, da sie ihr zwölftes Album veröffentlicht.
Es heißt Text und Musik, was in seiner Schlichtheit mehr ist als Reduktion aufs Wesentliche. Neunmal punkrockkurze, mal pophymnenbreite Stücke lang betreiben zwei Drittel der Urbesetzung um den Sänger Max Müller die kreative Inklusion von Wort und Klang. Loteten frühere Platten gern die Grenzbereiche gegenseitiger Zuträglichkeit aus, was sich besonders in brachial dadaistischen Live-Auftritten zeigte, so zanken sich Gitarren und Gesang nun nicht mehr um die Deutungshoheit. Dadurch ist Text und Musik jedoch keinesfalls milder geworden, sozusagen altersweise. Das Album liest sich eher wie der lebenskluge Versuch, den Erzählungen vom richtigen Leben im Falschen auch musikalisch stärker zu vertrauen.
Dafür muss es gar nicht harmonisch zugehen. Zu Beginn tröpfeln zwar die Flowerpornos in Früher oder später, was Müller mit gewohnt süßlicher Stimme unterlegt, als stünde Tom Liwa Pate. Es gibt flötensamplebegleitete Instrumentalgespinste wie das anschmiegsame Qui oder Am Abend im Anschluss, wo der Gesang des 50-Jährigen wie der des gleichaltrigen Andreas Dorau klingt. Zwischen den Durtonleitern im Viervierteltakt aber äußert er sein Unbehagen übers urbane Menschsein mit passgenauen Zeilen wie „Wer hat schon Lust zu denken / wie sie denken / die uns hassen“ und lässt darunter die Dissonanzen flattern, bis es im Finale doch wieder an Atari Teenage Riot erinnert.
Wie beim hochgelobten Vorgänger Mein kleiner Krieg fehlt darin allerdings das strikte Bemühen um Besonderheit, das den deutschsprachigen Pop kennzeichnete, als ihn Mutter dem Underground zuführte. Die Maßgeblichkeit kommt einfach instinktiver daher, aus sich selbst heraus. Ohne Ziel. Ohne Gestus. Das macht Text und Musik zur ungeheuer selbstgewissen Platte. Keine, die die Musik ihrer Zeit prägen wird wie vor fast 30 Jahren. Aber ungebrochen erfolgreich. Atmosphärisch. Nicht kommerziell.
„Text und Musik“ von Mutter ist erschienen bei Clouds Hill.