Es hätte schlimmer kommen können. Denn es ging um Politik, als Mitt Romney am 17. Mai in der Villa des illustren Finanzinvestors Marc Leder in Boca Raton den zahlungskräftigen Gästen das Geld aus der Tasche reden wollte und ihnen erklärte, wie er die Wahl gegen Barack Obama im November gewinnen könne. Das ist nicht immer so, wenn Leder einlädt: Im Pool vergnügt man sich gelegentlich auch ohne Badetextilien, kaum verhüllte russische Tänzerinnen zucken zu stampfenden Technobeats, die moralischen Hemmungen fallen. Aber der republikanische Präsidentschaftskandidat und seine reichen Spender behielten Jackett und Krawatte an – zumindest auf dem Video, das nach der Veröffentlichung durch das Magazin Mother Jones die US-Schlagzeilen im Wahlkampf bestimmt.
Andererseits: Die Wirkung des heimlichen Mitschnitts dieses Fundraising-Dinners ist auch ohne lüsternes Partytreiben verheerend genug. Entkleidet von den Sprachhülsen der öffentlichen Auftritte steht der Kandidat gleichsam nackt da – ein politischer Striptease, der den Höhepunkt einer Reihe schwerer Rückschläge für die Romney-Kampagne markiert. Man ist versucht, sich amerikanischen Kollegen anzuschließen in ihrem Urteil „Heute hat Romney die Wahl verloren„. Das wäre voreilig. Ja, Romney hat seine Chancen verspielt – aber nicht an diesem Tag.
Man weiß jetzt also, was der republikanische Multimillionär über die Wähler denkt, die Präsident Obama unterstützen. Er sieht sie offenbar als einen Haufen Schmarotzer, die keine Steuern zahlen, ihr Leben selbst nicht auf die Reihe bekommen und stattdessen dem Staat auf der Tasche liegen:
„47 Prozent der Menschen werden für den Präsidenten stimmen – komme, was wolle. Also gut, 47 Prozent stehen hinter ihm, die vom Staat abhängen, die glauben, sie seien Opfer, die glauben, der Staat habe eine Verpflichtung, für sie zu sorgen, die glauben, dass sie einen Anspruch auf Gesundheitsversorgung, auf Essen, auf Unterbringung, auf was auch immer haben. Dass das ein Rechtsanspruch ist, den der Staat erfüllen muss. Und sie werden für diesen Präsidenten stimmen – komme, was wolle … das sind alles Leute, die keine Einkommensteuer zahlen.“
Und man weiß nun, dass Romney diese 47 Prozent abgeschrieben hat – als Wähler und als Mitmenschen: „Mein Job ist nicht, mir Sorgen um diese Menschen zu machen. Ich werde sie niemals überzeugen, selbst Verantwortung zu übernehmen und für ihre Leben zu sorgen.“
Wähler nehmen Patzer anders wahr als Medien
So demaskierend diese Worte sind, die Erfahrung zeigt: Solche offensichtlichen Patzer haben für sich genommen wenig Einfluss auf die Wahlentscheidung und sind erstaunlich kurzlebig. Viele Bürger nehmen sie kaum als derart richtungsweisend wahr wie sie in den Medien kommentiert werden. Das lässt sich am Verlauf der Umfragen ablesen und in gezielten Erhebungen vertiefen. Verbale Fehlgriffe wie Obamas Äußerung, der Privatwirtschaft gehe es doch gut, oder Romneys Schnellschuss nach den Angriffen auf US-Botschaften in Afrika dürften vorherrschende Meinungen zementieren – sicherlich. Das Schicksal eines Kandidaten besiegeln sie eher nicht, selbst wenn die Wahlkämpfer der jeweiligen Gegenseite ihre Wirkung verstärken.
Wird sich Romney also von diesem Desaster erholen? Möglich, aber im Grunde irrelevant. Die größten Fehler hat er lange vorher und nicht nur einmal begangen. Selbst das eigene Lager stellt seinen Wahlkampf mehr und mehr als vage, inkonsequent und ängstlich infrage.
„Geht es euch heute besser als vor vier Jahren?“
Dabei könnte es so einfach sein, hielte sich der Republikaner von allem fern, was sein Kernargument verwässert. Statt sich mit tapsigen Versuchen in der Außenpolitik und anderen Ablenkungen auf Obamas Spielfeld locken zu lassen, müsste er doch nur immer und immer wieder die Frage stellen: „Geht es euch heute besser als vor vier Jahren?“ Und so allein die Lage der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes ins Zentrum der Wahl rücken.
Deshalb sind es am Ende nicht die kleinen und großen Patzer, mit denen Romney das Rennen um das Weiße Haus verliert. Aber der jüngste hat gezeigt, dass es ein gerechter Ausgang wäre. Man sollte den Amerikanern jedenfalls keinen Präsidenten wünschen, der 47 Prozent von ihnen gar nicht vertreten will.
Die zweite Runde Romneyleaks von Mother Jones – „Palestinians have no interest whatsoever in establishing peace“ – liefert im Übrigen viel Erhellendes zu den außenpolitischen Vorstellungen des Kandidaten.