Und so war es gestern bei THE FALL:
Mark E. Smith war besoffen. Er war nicht angeschickert, nicht angetütert, auch nicht betrunken, er war schlicht und einfach absolut stockbesoffen. Man merkte das schon, als Bassist, Gitarrist, Keyboarderin und Drummer deutlich nach Mitternacht für ein kleines Präludium die Bühne bestiegen. In ihren Blicken war die nackte Angst zu sehen. Die Angst, ob Smith überhaupt nachkommen würde, ob er das Konzert durchstehen würde, und womöglich auch die Angst, ob es zu einer Schlägerei auf der Bühne kommen könnte.
Nach einem verdächtig langen Instrumental-Intro zu „Bo Demmick“ – die Begleitband schaute schon verstohlen ob Herr Smith denn überhaupt noch käme – betrat Smith mehr oder weniger auf allen Vieren die Bühne. Die Augen zu winzigen Sehschlitzen verengt, torkelnd, sich in aller Seelenruhe sein Sakko ausziehend. Seine schon jahrelang bekannten Mundzuckungen und –mahlbewegungen hatten ein neues Maximum erreicht, ich hatte während der ersten Minuten des Konzerts mehrmals das Gefühl, Mark E. Smith würde sich in den nächsten Sekunden schwallartig übergeben müssen. Er lief auch immer in etwas gebeugter Haltung hinter den Verstärkern herum. Es sah alles nicht gut aus.
Und daher spielte die Band um ihr Leben. Nichts anmerken lassen. Smith suchte die Mikrofone und fand sie. Legte los. Begann seinen Sprechgesang, seine Predigt. Und dann wurde erstmal alles gut. Er schaffte es seine Texte unters Volk zu bringen ohne umzufallen oder sich zu übergeben. Um diesen Status zu halten, gestattete sich die Begleitband zwischen den Songs Pausen der Länge null. Es ging von einem Song zum nächsten, ohne Unterbrechung, zack, zack, zack.
Smith war in aggressiver Stimmung. Während seiner Wortkaskaden behinderte er permanent seine Musiker, verdrehte dem Gitarristen dauernd alle Regler seines Verstärkers, haute mit dem Mikrofon gegen die Tasten des Synthesizers, klaute dem Schlagzeuger auch schon mal einen Beckenständer oder das Bassdrum-Mikro oder wickelte dem Bassisten sein Mikrofonkabel um den Hals. All dies nicht spielerisch, sondern in erkennbarer Absicht zu nerven. Als er anfing, wieder und wieder sein Gesangsmikro in die Bass-Drum zu legen, wurden auch die Bühnentechniker nervös.
Die Band verhielt sich äußerst de-eskalierend, der Gitarrist spielte einfach weiter und stellte seinen Sound heimlich wieder richtig, wenn Smith ihm den Rücken zuwandte, die Synthesizerspielerin beachtet ihn nicht weiter, der Bassist grinste und wickelte sich langsam wieder aus dem Mikrokabel; selten habe ich eine Band professioneller agieren gesehen. Man könnte natürlich auch sagen, dass die Jungs schlicht feige waren, und es war sehr interessant dieses Machtspiel zu beobachten: Smith als jahrzehntelanger Spiritus Rector der Band, vor dem man selbst dann noch kuscht, wenn er volltrunken mit 5 Promille herumzankt.
Weiowei, das klingt alles so negativ. Aber dem Konzert hat es natürlich nicht geschadet, es entstanden unglaubliche Energien im Publikum, vor allem in der zweiten Hälfte des Konzerts, als Smith sich zumindest physisch spürbar gefangen hatte. Es gab furiose Versionen von „Mountain Energei“, von „What about us?“ (Was bei Smith immer klingt wie „What about arse?“), „I can hear the grass grow“ und ein völlig großartiges, zehn Minuten langes „Blindness.“
Es ist, wie es ist. Mark E. Smith ist ein unglaublich geniales Riesenarschloch.