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Mein erster und letzter Besuch im IKEA Tempelhof

 

Ich saß auf dem Fahrrad und pedalte leicht, wie eine heliumgefülte Elfe, durch Berlin. Da klong mein mobiles Telefon. Ich stieg vom Rad und nahm das Gespräch an. Es war die Frau: „Mann aller Männer, besäßest du die unermessliche Güte, bei Ikea vorbeizufahren, um dort einen Küchenkatalog zu besorgen?“ – „Muss ich?“, murrte ich, denn ich vertrage den speziellen Geruch, den Ikea-Filialen verströmen ganz schlecht, eine Mischung aus Holzstaub, lösungsmittelhaltigen Pressspanbindemittel, Kleinkinderbrochenem und Hot Dogs. Außerdem will man einen Katalog nicht einfach so ansehen, das Katalogblättern löst Kaufreize und somit Wiederholungsbesuche aus.

„Ja, du musst“, flötete die Dame. Dafür bekommst du heute abend einen dreifachen Gin Fizz, ich habe eine neue Flasche Bombay Sapphire gekauft.“ Das war natürlich gut. Ich hechtete, ja hocht auf das Fahrrad und fuhr den Sachsendamm hoch. Der Sachsendamm, der Tempelhof und Schöneberg miteinander verbindet. Der Sachsendamm, die Straße der Verdammten, eine stumme Prozession von Menschen schritt einher, sie schleppten schweigend flache, hohe Pakete, wie Pilger sahen sie aus, den Blick in die Ferne gerichtet. Gelb-blau leuchteten vier Buchstaben am Horizont.

Ich parkte das Velo, betrat den Ikea, ging zum Informationsstand und wartete. Vor mir stand eine Großfamilie aus Mazedonien, die einen Bollerwagen leihen wollte. Man kann bei Ikea Bollerwagen leihen, weil der kürzeste Weg durch die Verkaufsausstellung bis hin zur Kasse mehr als sechs Kilometer lang und daher von Kleinkindern nicht zu bewältigen ist. Selbst wenn man nur eine Steckdosenleiste kaufen will, muss man die sechs Kilometer gehen. Es ergaben sich Schwierigkeiten, weil zum Entleihen eines Bollerwagens der Personalausweis abgegeben werden muss, es war aber nur ein mazedonischer Personalausweis vorhanden und es musste daher in umfangreichen Telefonaten mit der Filialleitung geklärt werden, ob das erlaubt sei oder nicht. Nach einigen Minuten war das Problem gelöst und ich sagte: „Ich hätte gerne einen Katalog“. „Da müssen Sie ganz nach hinten, zur Warenausgabe.“

Da musste ich also ganz nach hinten zur Warenausgabe. Ich marschierte 150 Meter weiter, an einem Selbstbedienungscafé vorbei, an einem schwedischen Lebensmittelmarkt vorbei, am Reklamationsschalter vorbei, bis zur Warenausgabe. Dort stellte ich mich an.

Als ich an der Reihe war, sagte ich: „Einen Katalog bitte.“ „Den normalen oder den Küchenkatalog?“ – „Den Küchenkatalog“. „Den gibt es nur oben, in der Einrichtungswelt, bei den Küchen“. Ich erhielt ungefragt einen hektografierten Zettel in Din A3, der dem Stadtplan einer mazedonischen Großstadt ähnelte und mit einem roten Punkt versehen war.

„Warum, o Bediensteter, gibt es diesen Katalog nicht auch hier unten? Bei der Warenausgabe?“ „Weiß ich auch nicht, wird von Kunden öfter gestellt die Frage“, war die dermaßen entwaffnende Antwort, dass ich schulterzuckend die 150 Meter zurückmarschierte, zum Infostand, gleichzeitig Startpunkt der Ikea-Rallye. Neben dem Infostand gibt es nämlich eine Rolltreppe und einen Fahrstuhl. Beide führen in die erste Etage, das Haupt-Einrichtungsland. Das Küchenland ist innerhalb des Einrichtungslandes, etwa 300 Meter vom oberen Ende der Rolltreppe entfernt. Ich bekam dort überraschend schnell einen Küchenkatalog und fragte, „wie komme ich hier so schnell wie möglich wieder heraus?“ „Sie müssen leider durch die ganze Ausstellung, am Ende der Ausstellung geht eine Treppe nach unten, dann müssen Sie noch durch das gesamte untere Geschoss mit den Mitnahmewaren bis zur Kasse. Ich weiß, ist lästig.“

„Kann ich nicht einfach die dreihundert Meter zur Rolltreppe zurück gehen, so wie ich gerade hergekommen bin?“ „Nein, die Rolltreppe geht nur aufwärts.“ „Aber da gibt es doch einen Fahrstuhl“. „Das ist nicht gestattet“. „Ah“, sagte ich, entfernte mich und ging natürlich trotzdem die dreihundert Meter zurück zum Fahrstuhl.

Unglücklicherweise hatte man bei IKEA soweit mitgedacht. Es gab am oberen Ende des Fahrstuhls, da wo ich stand, keinen Knopf um den Fahrstuhl zu rufen. Das ärgerte mich, weil es vom unteren Ende des Fahrstuhls nur wenige Meter bis zum Ausgang waren. Ich wollte erst kapitulieren, hatte dann aber eine gute Idee. Ich musste einfach warten, bis jemand von unten hochfahren würde, der Aufzug würde oben ankommen, die Türen würden sich öffnen, ich würde die anderen aussteigen lassen, selbst einsteigen und dann mit dem Aufzug herunterfahren. Ich würde einfach etwas warten müssen. Ich stellte mich also oben hin und wartete. Es kamen sehr, sehr lange keine Menschen. Ich sah auf die Uhr. Ich wartete genau zwölf MInuten, dann wurde ich sauer. Ich erwog kurz in einer amoklaufartigen Attacke die Rolltreppe gegen die Fahrtrichtung abwärts zu benutzen, das war aber völlig unmöglich, weil sie randvoll mit nach oben fahrenden Menschen war und der Strom der nachrückenden Menschen keinerlei Lücken ließ. Meinen Plan umzusetzen hieß wahllos Menschen zu verletzen. Ich habe nicht grundsätzlich ein Problem damit Menschen wahllos zu verletzen, aber nicht für einen Ikea-Küchenkatalog, das Kosten-Nutzen-Verhältnis erschien mir unwuchtig.

Da! Eine Familie mit Kinderwagen! Hurra! Ich sah von oben, wie sie sich dem Aufzug näherte. Einstieg. Hochfuhr. Die Fahrstuhltür öffnete sich, ich ließ die Familie aussteigen, stieg selbst ein, die Türen schlossen sich, der Aufzug stand. Ich suchte einen Knopf fürs Erdgeschoss, aber es gab keinen. Da, wo mal dieser Knopf war, war ein Schlüsselloch. Ich wurde ausgesprochen ärgerlich. Ich würde erneut warten müssen, bis jemand den Aufzug von unten rief. Ich setzte mich auf den Boden und spielte mit meinem Handy ein wenig Minesweeper. Das half nichts, es vergingen geschlagene fünfzehn Minuten, bis ich den TÜR AUF-Knopf drückte und den Aufzug wieder verließ. Mit höchster Wut durchmaß ich die sechs Kilometer Fußweg im Stechschritt, wüste Beschimpfungen ausstoßend. Wer immer sich mir in den Weg stellte, wurde mit einem gezischten, „verpiss dich, du verfickter Ficker“ beiseite gestoßen, wäre mir auch nur ein Mensch dumm gekommen, ich hätte ihn mit meinen bloßen Händen getötet.

Am Fahrrad angekommen zog ich mit zitternden Händen meinen ipod hervor, legte das Lied „Blindness“ von THE FALL auf Dauerschleife, fuhr mit einer ausschließlich durch Muskelkraft erreichten Durchschnittsgeschwindigkeit von 40 km/h nach Hause, warf den Katalog fluchend in eine Ecke, machte mich über den Bombay Sapphire her und ließ mir von meiner Frau schriftlich geben, dass ich lebenslänglich von weiteren IKEA-Besuchen freigestellt werde. Danach ging es mir wieder ein kleines bisschen besser.