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Kühe melken statt Premium-Shopping

 

Eine Besichtigung von Florian Meerwinck
Nicht weit entfernt von den Glitzermeilen rund um den Alexanderplatz liegt eine Insel der Provinzialität. Die Hautevollee pilgert zum Kaufhof, die Massen strömen ins Alexa, Technikbegeisterte wühlen bei Saturn nach Schnäppchen; doch der ganz normale Durchschnittsberliner, mit Wohnungsbaugesellschaftmittemietvertrag und Bruttoeinkommen unter 1500 Euro, hält sich fern von diesen Verlockungen des schnöden Konsums. Gelernte DDR-Bürger und kleine Angestellte, Frührentner und Hartz-IV-Empfänger, sie geben sich ein Stelldichein in einer der trübsinnigsten Passagen, die die Stadt zu bieten hat: dem Berlin Carré.

Versteckt im Erdgeschoss des monströs aufragenden Wohnblocks an der Karl-Liebknecht-Straße, eingeklemmt zwischen einer Bäckerei und einem Mobiltelefongeschäft, vollführt eine Drehtür einsame Pirouetten. Nur selten passiert sie ein Gast; von Kunde kann man kaum sprechen, denn die meisten kommen eh nur, um zu schauen – und nicht um zu kaufen.

Das Berlin Carré ist der gescheiterte Versuch, das Markthallen-Prinzip in die Gegenwart zu retten. Auf der Gesamtfläche planlos aus der Hand verlorene Stände bilden ein Mini-Labyrinth, in dem man zwischen Lädchen umherirrt, deren Verkaufsfläche 10 Quadratmeter nur selten überschreitet. Socken und Strumpfhosen soll man dort kaufen, Wein aus Ungarn, Kinderkleidung und Billigschuhe bieten die Händler feil; Bücher und Esoterikbedarf sind im Angebot.

Der „Märkische Bauernmarkt“ wirbt mit einer Monsterkuh, die, so fleht ein Schild, vom Konsumenten selbst gemolken werden dürfe. Doch wer an künstliche Euter denkt, der irrt: Die eckige Schwarzbunte ist nur ein „Kuh-lschrank“ , und die Milchentnahme erfolgt ganz zivilisiert per Schiebetür an der Flanke.

Ein Kaiser’s alimentiert mit seiner Ladenmiete die Trübsinnigkeit, und gegenüber versucht Anton Schlecker, Umsatz zu generieren. Müde geworden, kann sich der Konsument bei zwei Stehbierhallen oder einem Asia-Imbiss, der allen Ernstes deutsche Schlager zur Musikberieselung verwendet, laben.

Die wirklich Harten wagen sich die Treppe hinauf. Von der Galerie eröffnet sich dem Besucher nicht nur die Möglichkeit, von oben einen scheelen Blick auf das Treiben zu werfen. Nein, auch ein Pfennigland buhlt um Besucher, dessen „zweckmäßige“ Ladeneinrichtung im Vergleich zur autentischen Trostlosigkeit des Nachbarns aber vergleichsweise luxuriös ist. Denn nur wenige Schritte trennen das Schnäppchen-Eldorado von einer Ostalgiker-Oase namens „Ostpaket“. Wem der Sinn nach Tempolinsen, Berliner Schaumküssen, Russisch Brot aus Wurzen und anderen übrig gebliebenen Köstlichkeiten des ersten und letzten sozialistischen Staates auf deutschem Boden steht, der wird hier fündig.
Alles wie früher! Stilecht steht eine mürrische Mittvierzigerin im Kittel hinterm Tresen, verschwindet ab und an hinter einem Plastevorhang, bescheiden ist die Auswahl und die mühsam ergatterten Perlen der heimischen Esskultur wandern in die mitgebrachten Dederonbeutel der selig lächelnden Ossis.

McDonalds ist die letzte Station dieses Rundganges. Noch immer unerklärlicher Anziehungspunkt für Kindergeburtstage und Unvolljährige, bildet der Hamburgerbräter den einzigen Grund, weshalb Personen diesseits der 65 überhaupt das Berlin Carré betreten.
Den absoluten Gruselkick bringt wohl nur noch eine Kabarettbühne namens – haha! – „Sündikat“. Das aktuelle Programm heißt „Bergfest im Jammertal“ – und damit ist dann auch wirklich alles gesagt.