Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Berliner Wirtschaftswunder: Das Geheimnis der Curry-Station

 

Wenn ich des Abends aus meinem Fenster kucke, sehe ich direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite zwei Gaststätten. Die eine heißt „Pilsstübchen“, es handelt sich um eine nicht ungemütliche, quasi archetypische Berliner Schankwirtschaft, sie verfügt über einen kleinen Tresen, an dem mehrere braune Holzhocker stehen. Gereicht wird das stets leicht nach Eigenurin schmeckende Schultheiß Pilsener, ansonsten kann man sich auch an einer Magnumflasche Asbach Uralt eines oder mehrere Stamperl zapfen lassen. Zwei Daddelautomaten und eine Musikbox mit Schlagermusik und Kirmestechno sorgen für Geräuschkulisse. Der Wirt ist Mitte 60, resolut und drahtig.

Direkt nebenan gibt es die sogenannte „Curry Station“. Ein neonbeleuchteter gekachelter Imbiss mit insgesamt fünf bestuhlten Tischen. In der Vitrine der Curry-Station liegt, soweit ich zurückdenken kann, immer genau das gleiche, Tag für Tag: Ein zu einem Viertel gefülltes Töpfchen mit Fleischsalat, ein halbvolles Töpfchen mit an den Rändern leicht beigefarbenem Kartoffelsalat, ein dreiviertelvolles Backblech mit Pizza, sowie mehrere belegte Brötchen, deren Belag (Kochschinken und Gouda) sich schulterzuckend der Neonröhre zuwendet, nur die obenliegende Gewürzgurkenscheibe verhindert wohl, dass der Belag völlig davonfliegt. Nie habe ich in der Curry Station jemanden etwas essen gesehen. Es ist nicht völlig auszuschließen, dass es sich beim Inhalt der Vitrine um Speisenattrappen handelt.

Man müsste also meinen, in der ungemütlichen leicht verwest wirkenden Curry-Station sei nichts los, und nebenan im Pilsstübchen tobe der Bär. Pustekuchen. Jede Nacht das gleiche Schauspiel, welches mich immer wieder aufs Neue abends an meinem Fenster Platz nehmen und nach gegenüber starren lässt. Gegen 20 Uhr trudeln in der Curry Station die ersten Gäste ein, durch die Bank Schwersttrinker ab vierzig. Die Stimmung muss erregt-aufgepeitscht sein, man hört zwar nichts, aber stets herrscht aktive Gestik, ich sehe Menschen herumfuchteln, der Wirt reicht im Zehnsekundentakt Bierflaschen über den Tresen. Nebenan, im Pilsstübchen gähnende Leere. Ich sehe durchs Fenster, wie der Wirt ein sehr dickes Kreuzworträtselheft durcharbeitet, langsam und gewissenhaft.

Die Curry-Station hingegen ist bis 21 Uhr proppenvoll. Zeit für den Wirt, das Radio (Spreeradio) ein wenig aufzudrehen. Jetzt höre ich es auch ganz leise bis über die Straße in meine Wohnung. Der Wirt hat langsam alle Hände voll zu tun, geschäftig rast er hin und her und verteilt weitere Bierflaschen. Blick nach rechts, ein einziger Gast steuert wankend auf das Pilsstübchen zu und geht hinein. Blick zurück nach links, völlig unfassbar, in der Curry-Station wird getanzt. Getanzt. Es handelt sich hierbei nicht um einen einzelnen volltrunkenen Tänzer, wie man es gerne Nachmittags auf Stadtfesten sieht, nein, hier tanzen sicherlich zehn Leute. Besonders schäumend ist die Stimmung zum Monatsersten, wenn Arbeitslosengeld und Sozialhilfe auf den Postpank-Girokonten der Curry-Station-Gästen eingetrudelt sind.

22 Uhr. Auftritt Else. Else kommt jeden Abend Punkt 22 Uhr. Sie ist knapp sechzig Jahre alt, 150 cm groß und die Gattin eines des Herren, der sich gerade in der Curry-Station bewusstlos säuft. Irgendwann muss sie mal etwas sehr schreckliches in der Curry-Station gemacht haben, jedenfalls hat sie Hausverbot. Einerseits. Andererseits will sie ihren Mann abholen, er soll nach Hause. Und das geschieht immer nach dem gleichen Ritual. Sie schleicht sich in gebeugter Haltung zur Eingangstür der Currystation und versucht unerkannt hineinzugelangen. Geht natürlich schief, denn die gesamte Frontseite der Currystation besteht aus einem großen Schaufenster. Der Wirt sieht sie schon, wenn sie noch 100 Meter entfernt ist. Kaum ist sie drinnen, wird sie gleich wieder rausgeworfen. Nun beginnt sie eine Litanei mit dunkel raunendem, aber gleichzeitig metallisch-scharfem Otto-Sander-Bariton:

||:Doo Schlappschwanz, komm herauès, doo Aaschloch!
Komm sofocht darauès doo blöde Sau.
Biss wieda besoffen doo Aaschloch,
wachte, kannzich uff wát jéfàsst machen doo Arsch doo
wenne da rauèskommen tust. :||

Manchmal tritt sie dabei auch rhythmisch gegen die Scheibe.

Nach einigen Strophen kommt normalerweise einer der Mittrinker ihres Gatten in schlichtender Absicht heraus und versucht Else in versöhnliche Gespräche zu verwickeln. In über 90 Prozent der Fälle entsteht daraus aber ein Handgemenge, das üblicherweise in eine handfeste Schlägerei übergeht, in die sich schnell Unbeteiligte einmischen, sodass sich – wenn das Wetter nicht allzu schlecht ist – defaultmäßig gegen 23 Uhr etwa acht bis zehn Menschen vor der Curry-Station prügeln. Gegen 23.08 Uhr LALÜ LALA! LALÜ LALA! – lautstarker Einmarsch dreier Polizeiwagen, es endet je nach Gemütszustand der Schupos mit Allgemeinversöhnungen oder Festnahmen, um 23.30 ist der Spuk normalerweise vorbei. Nebenan, im Pilsstübchen, immer noch ein einzelner Trinker.

Ab Mitternacht sind in der Curry-Station erste Ausfälle zu verzeichnen, ein Mann wird aus der Eingangstür gestoßen, er schafft es bis zur Straßenlaterne, diese hält er fest und beginnt unverzüglich zu erbrechen. Der aufmerksame Wirt der Curry-Station eilt meist mit einem vollen Wassereimer hinterher, um die Spuren en passant zu verwischen, da kann man sehen, wie viel ihm die Kneipenlizenz wert ist.

Dann gibt es noch den tragischen Haltestellenheld, das ist auch so eine Sache. Umittelbar vor der Curry-Station befindet sich eine Bushaltestelle, es ist dies die Starthaltestelle der Buslinie 174. Eine unbeliebte Haltestelle bei Busfahrern, lädt man sich ab 22 Uhr normalerweise gleich erst mal drei Besoffene in den frisch gewienerten Bus. Na, jedenfalls, unser Held, sieht durch das Schaufenster den Bus kommen, trinkt gierig sein Bier aus, zieht Hut und Jacke über, um den Bus dann um drei Sekunden zu verpassen. Schulterzuckend geht er wieder in die Curry-Station zurück und trinkt weiter. Das Spiel wiederholt sich alle zehn Minuten bis 01:12 Uhr, denn da fährt die Linie zum letzten Mal. Meist kriegt er diesen letzten Bus dann aber; ähnlich wie dem Diener bei Dinner for One, der irgendwann schon Meter VOR dem Tigerkopf in die Höhe hüpft, gelingt auch unserem Helden das, was man Antizipation nennt. Gelingt es ihm jedoch, wie an einigen wenigen Abenden, nicht, dann wackelt die Heide. Ein langgezogenes

„VAFLUCHT! ICK GLAU ICK WER ZUN SCHWEIN!“
und mehrere sehr sehr feste Tritte gegen den Busfahrplan sind die Folge. Im Anschluss Rückzug in die Curry-Station mit finalem Komasuff.

Da! Die Augen rechts! Der Gast aus dem Pilsstübchen wird jetzt auch aus dem Pilsstübchen geworfen wg. Trunkenheit. Er erbricht eine Runde, versucht in das Pilsstübchen zurückzukehren, wird erneut des Hauses verwiesen und wankt dann sehr sehr bedächtig die drei Meter weiter zur Curry-Station, öffnet die Tür – und wird hereingelassen.

Und vielleicht ist ja genau dies das einzige kleine und doch so große Geheimnis der Curry-Station – dass deren Wirt ein klein wenig mehr abkann als der des Pilsstübchen. Vielleicht.