Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Mein erster Abend in Berlin

 

Heute vor zehn Jahren bin ich nach Berlin gezogen. Mein erster Abend in Berlin sah so aus:

Ich war frisch nach Berlin gezogen. Hui, aufregend! Die Eisenacher- Ecke Motzstraße, da hatte ich mich einquartiert. Eine sicherlich nicht unzweifelhafte Gegend, und dies in mehrerlei Hinsicht. Kenner munkelten von verrufenen Bars, übelriechenden Darkrooms, Haschisch spritzenden Halbstarken und ähnlichem.

Nun mache ich also an meinem ersten Abend eine kleine Erkundung durch die Gegend. Fange im damals noch seligen Café Swing an, erfrische mich dort mit Kaltgetränken wie ein Fürst, erlebe eines der seinerzeit dort gereichten herrlichen Gratiskonzerte und alles ist fein. Von dort aus unter Zuhilfenahme grundlagenfördernder Imbissstuben noch weiter durch die eine oder andere Rabaukenschwemme, eine davon heißt sogar „Heckmeck“ und wirbt an der Außenseite mit dem rhythmisch beleuchteten Schild: „BIER UND SCHNAPS“. Ja das ist doch großartig!

So gegen vier stolpere ich beseelt nach Hause. Und stelle fest: Oh, das ist ja eine Gaststätte bei mir unten im Haus. Und die ist auch noch offen. Ballin Ballin ick komme! Die Gaststätte heißt „The Thistle“, zu deutsch „DIE DISTEL“ (!!) [sprechen Sie das mal betrunken aus!]. In dieser Gaststätte: Hochprofessionelle Schwerst- und Randalesäufer, teils direkt von der Gefühllosenschule auf den Tresenplatz rübergewandert und dort mittels Saugnapf festgeschweißt. Mir doch egal. Ich halte es mit Milva und denke mir „ICH HAB KEINE AHAHAANGST!“ Da muss ich rein, durch die verschmierte Schaufensterscheibe der Lokalität funkelt gülden eine wohlsortierte Scotch Malt-Auswahl.

Innendrin stark verwestes Personal. Es dudelt ein Geldspielautomat. Am Geldspielautomaten: Ein Pärchen. Es schmeißt während ich die ersten Erfrischungen einnehme, ca. 100 DM in den Automat. Offensichtlich die letzten Ersparnisse, denn als das Geld alle ist, sacken beide in sich zusammen und legen Ihre Häupter auf den Tresen zum Schlafen nieder. In einer anderen Ecke wird bereits halbherzig geprügelt. Hektisch zuckt eine Neonröhre in der Musikbox.

Angestachelt und im Furor meiner inzwischen eingetretenen Verwahrlosung werfe ich mutig ein Markstück in den Geldspielautomaten. Es erscheinen zwei Kronen, noch zwei Kronen, und dann noch eine Krone in der Mitte. Das bedeutet 100 Sonderspiele. Auf Anhieb. Erhebliche Kadenzen in Dur sondert der Automat ab und macht dann sehr lange „taktaktaktaktak“ (Der Sonderspielzähler).

Binnen kurzem gewinne ich etwas mehr als 100 Mark. Es wäre wahrscheinlich nicht völlig falsch zu sagen, dass ich mit dem Einsatz von einer Mark die letzten Ersparnisse des Pärchens eingefahren habe, welches soeben noch auf dem Tresen schlief und jetzt wach wird und mich ungut anschaut. Eigentlich, stelle ich fest, schauen mich ALLE in der Kneipe ungut an. Kein Wunder, ich passe in diese Schankwirtschaft etwa so nahtlos hinein wie ein Rabbiner in einen Schienenersatzverkehr zwischen Oranienburg und Jüterbog nachts um halb drei.

Was tun? Ich tue das nächstliegende.

Werfe 10 DM in die Musikbox, drücke 20x hintereinander „Take me to the matador“ von Garland Jeffreys, ziehe sodann am „Lokalrunde“-Tau, das an einem Klöppel hängt, welcher wiederum an einer Glocke biblischen Ausmaßes hängt.

Mit der Miene eines Vollstreckers zapft der Zapfmann 24 große Pils, ich bin meine 100 Mark gleich wieder los und gehe freundlich lächelnd rückwärts raus, einem Schäferhund latsche ich auf den Schwanz dabei, aber der Hund blinzelt mich nur an. Nicht mal unfreundlich, eher gelangweilt.

Jetzt wohne ich in Friedenau.