Es gibt Themen, mit denen beschäftigt sich der Europa-Korrespondent eher pflichtschuldig, denn aus Leidenschaft. Der Kosovo gehört dazu. Seit Wochen kocht Brüssel vor Kosovo. Wann genau wird die abtrünnige Serbenprovinz ihre Unabhängigkeit erklären? Welche EU-Ländern erkennen diese Sezession dann an? Welche verweigern einer EU-geführten Rechtsstaatsmission womöglich die Zustimmung? Was passiert in der Folge in anderen Staaten, in denen ebenfalls geografisch konzentrierte Minderheiten die Eigenständigkeit anstreben? Erhitztes Spekulieren allerorten.
Immerhin geht soeben ein Aufatmen durch Europas Hauptstadt, angesichts des knappen Wahlsiegs des EU-freundlichen Boris Tadic. Schon bald, so stellt es Kommissionspräsident Manuel Barroso jetzt in Aussicht, könnten die Außenminister der Union ein politisches Kooperationsabkommen mit Belgrad abschließen, um den Freihandel, die Reisemöglichkeiten und den Studentenaustausch zu erleichtern.
Aber offen gesagt interessiert mich an der ganzen Debatte vor allem eine Metafrage, die vielleicht viel zu selten gestellt wird.
Sie lautet:
Warum beruhigen sich die Balkanesen nicht endlich einmal? Seit 1991 zerlegt sich Ex-Jugoslawien in seine Einzelteile, das Kosovo ist der siebte Mini-Staat, der auf dessen ehemaligem Territorium entsteht. Ich glaube nicht falsch zu liegen, wenn ich behaupte, dass der Konflikt zwischen Serben und Kosovo-Albanern inzwischen vielen Mitteleuropäern ärgerlich archaisch erscheint. Er tut dies vor allem deswegen, weil er sich einer Zivilisationslogik zu entziehen scheint, von der wir dachten, sie hätte sich mittlerweile mindestens bis in die EU-Peripherie durchgesetzt.
Sie fußt auf der Gründungsphilosophie der EU, die besagt, dass wirtschaftlich eng miteinander verflochtene Gesellschaften keinen Krieg gegeneinander führen. Dieses Ex-EU-Friedenspatent hat sich mittlerweile längst über Europa hinaus entgrenzt. Die Globalisierung ist in vielen Bereichen nichts anderes als die EUisierung der Welt. Immer wieder wird die wirtschaftliche Einebnung des Planeten als Garantie für Frieden beschrieben.
„Wo Kommerz ist, herrschen gesittete Manieren und Moral“, schrieb schon Montesquieu. „Die natürliche Wirkung des Handels ist es, zu Frieden zu führen.“
„Der Freihandel ist Gottes Form der Diplomatie“, dichtete prophetisch der britische Politiker Richard Cobden 1857. „Es gibt keinen anderen sicheren Weg, Völker in den Banden des Friedens zu vereinen.“
Über das tolerante Treiben an der Londoner Börse schrieb Voltaire im sechsten der „Philosophischen Briefe“: Es ist dies ein „respektablerer Ort als viele Gerichtssäle. Man sieht Vertreter jeder Nation versammelt, zum Wohle der Menscheit. Der Jude, der Mohammedaner und der Christ handeln hier miteinander als teilten sie dieselbe Religion, und die Bezeichnung „Ungläubige“ reservieren sie für jene, die bankrott gehen (…). Am Ende dieser friedlichen und freien Versammlung gehen die einen zur Synagoge, die anderen eins trinken; dieser lässt sich in einem großen Bottich im Namen des Vaters vom Sohne für den Heiligen Geist taufen, jener lässt seinem Sohn die Vorhaut beschneiden und über das Kind hebräische Wörter murmeln, die er überhaupt nicht versteht; die anderen gehen in ihre Kirche, um mit dem Hut auf dem Kopf die Inspiration Gottes zu erwarten, und alle sind zufrieden.«
1996 beobachtete der amerikanische Intellektuelle Martin Walker: „Das Zeitalter der Geopolitik ist einem Zeitalter gewichen, das man das Zeitalter der Geoökonomie nennen könnte.“ Und im Jahr 2000 formulierte der Amerikaner Robert Wright mit Nonzero: The Logic Destiny die Theorie, dass die Geschichte trotz mancher Querschläge „gerichtet“ verlaufe, nämlich weg von einer konfrontativen, kriegsgeneigten Welt hin zu einer kooperativen Ordnung, in der Krieg für alle Nationen zuverlässig ein Verlustgeschäft bedeutet. „In der grundsätzlichen Flugbahn der Geschichte entstehen immer wieder neue Technologien, die immer neue und reichere Formen der Nicht-Nullsummen-Interaktion erlauben. Im Ergebnis wird die Menschheit in einem größer und reicher werdenden Netz von gegenseitigen Abhängigkeiten verankert.“
Oder, in den heutigen Worten des EU-Kommissionsvorsitzenden Barroso:
„Wir möchten Serbiens Fortschritt in Richtung der Europäischen Union beschleunigen. Wir glauben, dass engere Bande mit der EU nicht nur die Rolle Serbien auf der internationalen Bühne stärken wird, sondern auch zu größerem Wohlstand und Wohlergehen für das serbische Volk führen wird.“
Ein wenig popularisierend fasste der amerikanische Journalist Thomas Friedman diesen Gedanken zu Anfang des 3. Jahrtausends in die „Theorie der Konfliktvermeidung durch den Goldenen Doppelbogen“ zusammen. In seinem Buch Die Welt ist flach schreibt er:
„Sobald ein Land wirtschaftlich so weit entwickelt ist, dass es über eine ausreichend große Mittelschicht verfügt, um eine Kette von McDonald’s-Restaurants zu unterhalten, wird es ein McDonald’s-Land, und Menschen in McDonald’s-Ländern führen nicht gern Kriege, sondern stellen sich lieber nach Big Macs an.“
Tatsächlich, so Friedman, hätten (jedenfalls nach Auskunft der McDonald’s-Pressestelle) bisher noch nie zwei Länder, in denen sich McDonald’s-Filialen befänden, gegeneinander Krieg geführt – von Grenzstreitigkeiten und Bürgerkriegen abgesehen.
Friedmans Beobachtung stimmt zwar nicht. Was stimmt, ist aber, dass wenn sie zwei McDonald’s-Länder gegeneinander führen, uns eben diese Kriege immer besonders bizarr, kleinkariert und unzeitgemäß vorkommen. Der Krieg zwischen Großbritannien (großer Burger-Vertilger) und Argentinien (großer Burger-Lieferant) um die Falklandinseln von 1982 wäre so ein Beispiel. Der 33-Tage-Krieg zwischen dem Libanon und Israel von 2006 ein anderes. Als Ikonografie letzteren Konflikts ist uns treffenderweise ein Foto in Erinnerung, dass eine Gruppe junger Menschen in einem glitzernden Cabrio vor der Trümmerlandschaft Süd-Beiruts zeigt. Die Ausflügler machen darauf einen so erstaunten Eindruck, als seien sie auf dem Weg in ein Drive-in plötzlich im Zweiten Weltkrieg gelandet.
Tatsächlich ergibt eine kurze Internetrecherche, dass gibt es zwar in Belgrad eine Mc-Donald’s-Filiale gibt, nicht aber in Pristina. Ist also die fehlende wirtschaftliche Mittelschicht Schuld daran, dass der Balkan einfach nicht zur Ruhe kommen will? Oder, anders gefragt, warum hat Serbien die Mitgliedsvoraussetzung allerfriedliebender Völker ergattert, das Kosovo aber nicht?
Einen Teil der Antwort gibt heute im Handelsblatt der in Pristina ansässige indische Weltbankvertreter Ranjit Nayak:
„40 Prozent der Kosovaren leben unter der Armutsgrenze, weitere 15 Prozent sind sogar extrem arm.“ Das Bruttoinlandsprodukt des Kosovo sei so groß wie das von Ägypten, die Bevölkerung sei zur Hälfte jünger als 25 Jahre und zum nahezu gleichen Anteil arbeitslos.
Der andere Teil der Antwort lautet womöglich, dass die rund 2 Millionen Kosovaren zuviel Hoffnung und Energie auf die Wirkung der Unabhängigkeit gesetzt haben. Und sich zu sehr auf die UN verlassen haben, die in den vergangenen acht Jahren 22 Milliarden Dollar in die Provinz gepumpt hat, um die Wirtschaft anzuwerfen und Verwaltungsstrukuren zu schaffen. 17 000 Nato-Soldatten sollen für Sicherheit sorgen und unter anderem die schätzungsweise 120 000 Serben inj der Provinz beschützen. Nach acht Jahren UN-Protektorat wird aus dem Kosovo nun ein EU-Protektorat. Doch statt Partnerschaft und Wirtschaft blühen heute vor allem Nationalismus, Korruption und organisiertes Verbrechen.
Der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama sieht einen „eindeutigen Zusammenhang“ zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und Demokratie. „Transformationsprozesse geschehen zwar unabhängig vom Entwicklungsniveau eines Landes, sie werden jedoch seltener in Ländern wieder rückgängig gemacht, in denen das Bruttoinlandsprodukt (BIP) eine Schwelle von 6000 Dollar pro Kopf der Bevölkerung erreicht oder überschritten hat“, schreibt Fukuyama (Scheitert Amerika?, List 2007, S. 131 f.).
„Das erklärt die Korrelation zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und Demokratie (…) und legt den Schluss nahe, dass eine politische Entwicklung eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung zur Vorraussetzung hat.“
Dem Journalisten Fareed Zakaria kommt sofort Europa in den Sinn, wenn er danach fragt, warum der Wohlstand der Nation die Freiheit fördert:
„Wirtschaftswachstum schuf die beiden wichtigsten Voraussetzungen einer nachhaltigen Liberalisierung und Demokratisierung: Erstens sicherte es gesellschaftlichen Schlüsselgruppen, speziell den Unternehmern und der Bourgeoisie, einen von der Amtsgewalt losgelösten Einfluss. Zweitens lernte der Staat in den Verhandlungen mit diesen Gruppen, seine Habgier und seine Launen zu zügeln, Spielregeln zu beachten und wenn schon nicht auf die Wünsche der Gesellschaft als ganzer, so doch wenigstens auf diejenigen der Eliten einzugehen. Das – oft unbeabsichtigte – Ergebnis war ein Zuwachs an Freiheit.“ (Das Ende der Freiheit, dtv 2007, S. 67)
Vielleicht also erscheint uns das Kosovo-Problem so archaisch, weil es dort immer noch zu viele irrationale Akteure gibt, denen große Leidenschaften wichtiger sind als basale Bedürfnisse (fassen wir für eine ironische Sekunde das Burgervertilgen darunter). Und aus großen Leidenschaften, schon Shakespeare hat’s gepredigt, entstehen große Fehler.
„Die antiken Griechen glaubten, dass der menschlichen Natur etwas innenlebte, das sie thumos nannten, ein Temperament und eine Wildheit, die dazu diente, den Clan, den Stamm oder Staat zu verteidigen“, notiert Robert Kagan in seinem Buch The Return of History. „Die Aufklärer nun glaubten, dass Handel den thumos der Menschen zähmen oder gar beseitigen könne.“
Stolz, Glaube, Nationalismus – es gibt sie eben doch noch, die Menschen, denen derlei wichtiger ist als irdisches Gut. Wir notierten das erste Anti-Brecht’sche Globalisierungsgesetz: Wo erst die persönliche Moral kommt und dann das Fressen, versagt die Friedenskraft des gelben Doppelbogens.
Also, liebe Kosovaren: bitte, traut euch und baut ein McDonald’s. Dann klappt’s vielleicht auch mit dem Nachbarn.