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Finnen von Sinnen?

Nein. Mit Rassismus hat der Wahlerfolg der EU-Skeptiker im Norden wenig zu tun

Das Missverständnis beginnt schon beim Namen. Die „Wahren Finnen“, die bei den Parlamentswahlen am Wochenende beachtliche 19 Prozent der Stimmen holten, heißen im wahren Finnischen mitnichten so. Das perus im Parteiname Perussuomalaiset bedeutet soviel wie bodenständig, erdverbunden, basisnah. Die „Basisfinnen“ also werden aller Voraussicht nach der neuen finnischen Regierung angehören. Der Spiegel zeigt eine erschreckend braun gefärbte Europakarte mit Ländern, in denen jetzt „Rechtspopulisten“ in den Parlamenten sitzen. Was Le Pen in Frankreich, so die Insinuation, ist Timo Soini, der Chef der Basisfinnen, im hohen Norden. Rassistische EU-Feinde überall.

Ach, wenn die Welt so einfach wäre. Es stimmt ja, die Basisfinnen ziehen rechte, man darf sogar unterstellen, hier und da rassistische Wähler an. Aber Finnland besteht nicht plötzlich zu 19 Prozent aus Rassisten. Zumal die waschechten Rassisten, die es gibt, ganz andere Parteien wählen. Mit der niederen Ansprache des Protolappen, kurzum, ist der Erfolg der Basisfinnen nicht zu erklären. Er muss andere Gründe haben.

Einer davon besteht darin, dass es eben nicht einfach „rechts“ ist, gegen Euro-Hilfszahlungen an Griechenland und Portugal zu sein. Die Sozialdemokraten in Finnland (und Deutschland!) sind es ebenfalls – jedenfalls in der bisherigen Form ohne Bankenbeteiligung. Es ist auch nicht rechts, sich darüber zu erregen, dass das Parlament bei den Zahlungen zu wenig mitzureden hat. Das tun die Grünen in Deutschland auch. Ebenso wenig rechts ist es, darauf zu beharren, dass die Volkswirtschaften im Euro-Raum ihres eigenen Glückes Schmied sind und nicht auf die Solidarität anderer bauen dürfen. Darauf haben sich sämtliche Regierungen der Europäischen Union geeinigt, nachzulesen in Artikel 125 des Lissabon-Vertrages.

Die 19 Prozent, die gestern in Helsinki auf den Bildschirmen aufleuchteten, stehen also für ein neues, lagerübergreifende politisches Motiv. Sie stehen für einen Unmut, für ein Rest-Unverständnis, das die Menschen bei allem guten Willen für die europäische Integration mit der Art und Weise befällt, wie diese EU funktioniert. Oder fehlfunkioniert. Es sind 19 Prozent, die nicht glauben wollen, dass die gegenwärtige Art von Europapolitik „alternativlos“ ist. Solche Skepsis ist nicht demokratiefeindlich. Im Gegenteil. Von Zweifeln wie diesen leben europäische Demokratien.

Dass sich der kritische Unmut nun ausgerechnet im politisch sonst so stillen und konsensorientierten Finnland Bahn bricht, hat zum einen mit Timo Soinis Person zu tun. Selbst seine schärfsten Gegner gestehen ihm zu, ein sympathischer, einnehmender und durchaus liberaler Kerl zu sein. Zum anderen hat es mit der tiefen protestantischen Grundierung des Landes zu tun. Die Finnen sind ein recht legalistisches Volk. „Wenn es Regeln gibt, dann müssen diese Regeln eingehalten werden“, sagte mir der bisherige Außenminister Alexander Stubb, „wir sind, was das angeht, ein Mini-Deutschland. Sehr streng.“

Die protestantische Grundierung beschränkt sich nicht nur auf die Gesetzestreue, sie umfasst auch den Arbeitsethos. Finnland steckte selbst einmal in einer Lage wie Griechenland. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1990/91 verlor Finnland schlagartig seinen wichtigsten Handelspartner für Rohwaren. Das Bruttosozialprodukts sankte um 10 Prozent ab, die Banken wackelten, die Arbeitslosigkeit schoss auf 20 Prozent. Was taten die Finnen? Freilich, sie erhielten auch Hilfen vom IWF. Aber parallel dazu werteten sie die Finnmark ab, kürzten ihren Sozialsektor dramatisch zusammen und schworen das Land auf einen radikalen Strukurwandel ein. Sie investieren Geld in den High-Tech-Sektor, die IT-Branche und Bildung. In Finnland arbeiten heute pro Kopf mehr Menschen in der Forschung als in jedem anderen OECD-Land.

Warum, fragen sich jetzt mehr als 19 Prozent aller Finnen, sollen andere Länder so etwas nicht auch hingekommen? Nun, könnte man antworten, akut muss man diesen Ländern, Griechenland und Portugal, eben helfen, überhaupt noch irgendwas hinbekommen zu können.

Aber was, wenn sie es trotz all der Milliarden nicht schaffen?

Tja.

Dieser Zweifelsbereich bleibt die Erfolgszone der Timo Soinis.

 

Unser Geld!

Die „Basisfinnen“ wollen sämtliche EU-Hilfszahlungen stoppen. Bei den Wahlen im Norden werden sie dafür wohl kräftig belohnt

Helsinki

Angesichts der Sondersitzung des Kabinetts, aus der der Außenminister gerade kommt, nimmt Alexander Stubb recht gefasst in seinen Dienstwagen Platz. Der drahtige 43jährige, der im Privatleben gern Ironman-Wettkämpfe absolviert, legt sein I-Pad beiseite und greift nach einer Packung Menthol-Bonbons. Nein, wimmelt er ab, über konkrete Summen für Portugal sei nicht geredet worden, dafür sei es zu früh. Fest steht für ihn, den nordischen Politstar und größten EU-Fan Finnlands, im Moment nur, „dass wir die europäische Wirtschaft retten müssen.“

Dass nach Griechenland und Irland jetzt ein drittes Land unter den Euro-Rettungsschirm schlüpft, verpasst dem Wahlkampf, der gerade in Finnland tobt, einen heißen Endspurt. Ausnahmsweise nämlich ist diese finnische Wahl am 17. April einmal spannend. Sie wird beherrscht von einer Grundsatzfrage, die sich über Finnland hinaus stellt und die immer weniger Menschen mit solcher Großzügigkeit beantworten wie Außenminister Stubb. Sie lautet, wie viel Solidarität sich der Euro-Bund leisten kann.

Weniger EU, mehr Christentum

Gar keine mehr!, fordert eine aufstrebende, bekennend populistische Partei am anderen Ende des politischen Spektrums. Die so genannten „Basisfinnen“ rufen dazu auf, die Wahlen zu einem Referendum gegen Stützungskredite für pleitegehende Euro-Staaten zu machen. In Umfragen liegen die aus der Finnischen Bauernpartei hervorgegangenen Protestler mittlerweile zwischen 15 und 18 Prozent, empor geschnellt von gerade einmal 4 Prozent bei Wahlen 2007. Ihr finnischer Name Perussoumalaiset wird oft ungenau mit „Wahre Finnen“ übersetzt; perus bedeutet eher soviel wie bodenständig. Neben weniger EU fordern die wahrlich finnischen Finnen unter anderem weniger Einwanderung, mehr Christentum und einen Stopp öffentlicher Fördergelder für Moderne Kunst.

Trotz offenkundiger Appelle an den rechten bis rassistischen Gesellschaftsrand ist der Chef der Partei, Timo Soini, zum populärsten Politiker des Landes aufgestiegen. Der 49jährige stammt aus demselben Wahlkreis im wohlhabenden Helsinkier Speckgürtel wie der bürgerliche Außenminister – bloß dass Soini seinen Erfolg darauf stützt, sich als das genaue Gegenteil des adretten Stubb in Szene zu setzen. Er bekennt eine Schwäche für Bier und Wurst, durchzieht seine Reden mit süffisanten Witzen und zoomt EU-Politik in einfachen Hauptsätzen auf Wohnzimmer-Niveau herunter. In einer dem letzten TV-Duelle vor der Wahl erklärte Soini, der von den Staatschefs vereinbarte „Mammut-Mechanismus“ könne nicht funktionieren, die Bail-out-Zahlungen wüchsen der EU über den Kopf. „Wir werden das alle auf unserer Stromrechnung sehen.“

Vermeintliche Alternativen zu vermeintlicher Alternativlosigkeit zu präsentieren, ist der eine Grund für die Beliebtheit der Basisfinnen. Ein anderer ist schlicht der Spaß-Faktor, den sie bringen. In einem Land, in dem der Konsens heilig ist und Polit-Talks traditionell so zuhörerfreundlich verlaufen wie Dermatologen-Kongresse, erhalten die Basisfinnen vor allem Zuspruch aus dem Pool der bisher Desinteressierten. Und diese Gruppe ist groß. Ein Drittel aller Finnen konnten in einer aktuellen Umfrage nicht sagen, welche Parteien gerade die Regierung stellen (es sind das Zentrum, die Nationale Sammlungspartei, die Schwedische Volkspartei und die Grünen).

Timo Soini, ein finnischer Peter Gauweiler 

Die Basisfinnen stechen aus der Eintönigkeit heraus durch zum Beispiel Pertti Virtanen, Songwriter mit Baskenmütze und Dali-Bart, der als Psycho-Trainer das finnische Ski-Springer-Team betreute, bevor er ins Parlament einzog. Oder durch Tony Halme, einem bekannten Profi-Wrestler, der mit rassistischen Anwandlungen Anstoß erregte, bis er vergangenes Jahr an den Folgen einer selbst zugefügten Schussverletzung starb. Und natürlich durch Timo Soini, den Parteichef selbst. Sogar Soinis Gegner bescheinigen ihm, kein Rassist zu sein, sondern ein ausgesprochen netter Kerl. „Er zieht natürlich rechte Wählergruppen an“, sagt der ehemalige Außenminister Erkki Tuomioja von den oppositionellen Sozialdemokraten, der im Nieselregen in der Helsinkier Haupteinkaufstraße versucht, Wähler zu werben, „aber man kann ihn nicht als finnischen Le Pen dämonisieren. Das ist er nicht.“

Ein finnischer Peter Gauweiler vielleicht eher. An einem Dienstabend füllt Soini einen Hörsaal im Hereuka-Wissenschaftspark in Vantaa mit 150 Menschen. Aus allen Alterschichten stammen die Neugierigen, das Garderobenspektrum reicht vom Jogginganzug bis zum Dreiteiler. Der durchschnittliche Basisfinnen-Wähler, sagen Untersuchungen, verdient zwischen 50.000 und 70.000 Euro jährlich, fährt am liebsten Mercedes und ärgert sich über steigende Steuern. Betont lässig schlurft Soini ins Foyer. Über seinem stolzen Bauch spannt sich das gestreifte Tuch eines Marimekko-Hemdes (das finnische Label schlechthin), unter dem Kragen baumelt ein Goldkettchen, das Kinn darüber ist eher grobmotorisch rasiert.

Wer versucht, klare Antworten von Soini zu bekommen, dem wird seine Schwäche (oder Stärke?) schnell deutlich. Der Mann ist wesentlich besser darin ist, zu sagen, was er nicht will, als darin, was er will.

Herr Soini, was machen Sie, wenn Sie in der Regierung sind? Die Kreditzahlungen zurücknehmen? „Wir sind in einer rechtswidrigen Situation“, antwortet er. „Der EU-Vertrag verbietet, dass Euro-Länder einander helfen.“

Die anderen Parteien sagen aber, sie werden Sie nur in der Regierung akzeptieren, wenn sie dem Euro-Reformpaket zustimmen.

„Ja, aber wenn wir ein gutes Resultat bekommen, ändern sich die politischen Muster. In Deutschland gibt es doch auch immer größere Zweifel und sogar Verfassungsklagen gegen den Mechanismus.“

Zweifel darf man aber vor allem daran haben, ob die Rigorosität von Soini und seinen Basisfinnen eine Regierungsbeteiligung überlebt. Wahrscheinlich, sagen Beobachter, werde am Ende ein Arrangement stehen, wie es die finnischen Grünen in der Atomfrage eingegangen seien. Offiziell sind sie für einen Ausstieg. Gleichwohl gehören sie mit diesem Sondervotum einer Regierung an, die einen Ausbau beschlossen hat. So könnten auch die Basisfinnen halten: Im Programm Nein sagen zu EU-Hilfen, in der Praxis Ja.

Wir gewinnen Geld, kontert Minister Stubb

Außenminister Stubb schließt deshalb keineswegs aus, eine Koalitionsregierung mit den Basisfinnen zu bilden. „Timo Soini und ich gute Freunde“, erzählt er erstaunlicherweise, „wir haben großen Respekt vor einander.“ Auch mit den Basisfinnen im Kabinett, versichert Stubb, werde sich Finnland „auf keinen Fall“ in eine nordische Slowakei verwandeln, die die Rettungszahlungen für Euro-Partner verweigere. Da solle sich der Rest Europas ganz sicher sein. „Das Schöne ist doch: Regierungsbeteiligung schafft Verantwortung. Verantwortung schafft rationales Denken. Und rationales Denken schafft gute Ergebnisse.“

Im Falle der griechischen Hilfsdarlehen hießen die, dass Finnland bisher schon 10 Millionen Euro Zinszahlungen aus Athen bekommen habe. „Wir haben also gar nichts verloren!“ Sei dieser Gedanke, fragt Stubb mit leichter Besorgnis, eigentlich so schon in Deutschland angekommen?

 

Mehr Liebe wagen!

Der belgischer Sexualforscher Bo Coolsaet warnt, dass wir die Innigkeit verlernen. Dabei brauchen wir sie – gerade in der Politik

Ulla Kimmig
© Ulla Kimmig (http://www.ullakimmig.de)

Eigentlich wollten wir mit Bo Coolsaet über die Liebe reden. Über die schlimme Entwicklung, genauer gesagt, dass es immer weniger Liebe gibt auf der Welt. Was daran liegt, dass immer weniger Menschen zur Liebe fähig sind.

Dies jedenfalls behauptet der Sexualwissenschaftler in einem neuen Buch, das in seiner Heimat Belgien gerade die Bestsellerlisten stürmt. Über den Niedergang der Liebe also wollen wir reden. Und was passiert? Wir sitzen kaum eine halbe Stunde zusammen, da sprechen wir über Karl-Theodor zu Guttenberg und Muammar Gadhafi – und zwar absolut folgerichtig. Es ist erstaunlich: Die Liebe und die Politik und der Liebesmangel und die Sehnsucht, all das lässt sich bei ernsthafter Betrachtung kein bisschen trennen!

Aber der Reihe nach. Wer ist eigentlich dieser Bo Coolsaet?

Es ist zunächst einmal ein Glück, dass sein hellweißer Lockenschopf in der Nachmittagssonne strahlt wie ein Leuchtturm, sonst würde man die Einfahrt zu seinem Anwesen in der Nähe von Antwerpen glatt verpassen. Mit schwungvollen, frohgemuten Ganzkörperbewegungen winkt er das Auto von der ländlichen Baumallee hinein in den heckengesäumten Weg, der zu seiner „Eulenburg“ führt. Prachtvoll hat der Professor den alten Bauernhof zu einer Landvilla im Atriumstil renoviert.

Der Pinsel der Liebe

Hier lebt der Mediziner, Heilkundler und Sexualtherapeut von internationalem Ruf, wenn er nicht gerade Vorträge in New York hält, arabische Ölscheichs mit Erektionsproblemen visitiert, in Neuguinea Phallus-Skulpturen von Eingeborenen erwirbt oder in der Urologie der Klinik von Antwerpen seine regulären Patienten betreut. Auf mittlerweile drei Bücher gründet sich die Prominenz des 71jährigen Flamen, sein populärwissenschaftlicher Erstling „Der Pinsel der Liebe – Leben und Werk des Penis“ von 1998 wurde in 17 Sprachen übersetzt, „HOMage“ von 2007 widmete sich dem männlichen Altern. Coolsaets neues Buch gibt es bisher nur auf Flämisch, sein Titel „De Alchemie van Liefde & Lusten“ erschließt aber auch dem Ausländer auf Anhieb – ganz zu schweigen von dem barocken Design mit dem Goldschnitt, die es zu einem geradezu erotisierenden Handschmeichler machen. 5000 Belgier erlagen schon am ersten Erscheinungstag der Versuchung des neuen Coolsaet und griffen zu.

„Welcome, welcome!“ ruft unser Einstein der Lust und schließt den Gast so stürmisch in die Arme, dass man denkt, holla, wenn das aber mal kein Liebesüberschuss ist!

Stimmt, sagt Bo Coolsaet und lacht, als wir drinnen vorm knisternden Kamin Platz genommen haben. Er sei in der glücklichen Lage, es wirklich zu kennen, das große „Liebes-Gefühl“, sagt er, während er eine Packung kubanischer Zigaretten öffnet. Seinen Eltern habe er das zu verdanken, erzählt er mit seligem Lächeln. Die beiden hätten sich wahrhaft und tief geliebt, und diese Liebe hätten sie an ihre Kinder weitergegeben. Andere, immer mehr Menschen, erlebten dies leider nicht, sagt der Experte.

Die Menschheit liebt also wirklich immer weniger, Herr Professor?

Coolsaet nickt ein stummes, schweres Nicken und schnalzt bedauernd mit der Zunge.

„Ja.“

Warum die Liebe stirbt

Die Beeinträchtigung der Liebesfähigkeit beginne schon im Mutterleib, erklärt er. Forschungen auf dem Felde der so genannten Epigenetik hätten gezeigt, dass Umwelteinflüsse während der Zellteilung Einfluss auf die Aktivität des Erbgutes und damit auf die Prägung von Menschen haben können. „Durchleidet die Mutter während der Schwangerschaft Stress oder Beziehungsprobleme, kann sich dies genetisch auf die Liebesfähigkeit des Kindes auswirken.“

Als zweiter Faktor beeinflusse in der frühen Kindheit das emotionale Klima innerhalb der Familie die „Wärme des Menschen“, wie Coolsaet die Empfänglichkeit für Empfindsamkeit nennt. Sind die Eltern durch ihre Jobs genervt oder von wirtschaftlichen Sorgen geplagt, sei gut möglich, dass sich das Kühle im Miteinander auf die Persönlichkeit des Kindes übertrage. Schließlich, ab etwa drei Jahren, müsse eine starke Vaterfigur dafür sorgen, dass das Kind von der einseitigen Bindung an die Mutter gelöst werde. Unterbleibe diese Entkopplung, so wie es bei der steigenden Zahl der Alleinerziehenden der Fall sei, könne dies später im Leben der Kinder zu Bindungsproblemen führen.

Er habe so viele Patienten behandelt, berichtet Coolsaet, die schlicht nicht wussten, was Liebe ist, wie sich dieses „Feeling“ anfühlt, weil sie einfach nie mit Liebe in Berührung gekommen seien.

Stress, Leistungsdruck und Familienzerfall lassen also die Liebe sterben – die Liebe in ihrer reinsten bio-chemischen Form?

Noch ein Nicken. Noch ein bedauerndes Schnalzen.

„Die gute Nachricht lautet allerdings: Es gibt immer Hoffnung, dass Menschen auch später im Leben geöffnet werden können und lernen zu lieben.“ Coolsaet ist überhaupt kein religiöser Mensch, beteuert er, aber das, was Liebe eigentlich ist, kann er nach vielen Jahren der Forschung nur mit einem überirdischen Begriff beschreiben. „Sakrale Fusion“ lautet seine Definition. Sie komme zustande, wenn zwei Menschen einander erlauben, gegenseitig in ihre Gefühle einzudringen, sagt der Professor und malt zwei Kreise auf ein Blatt Papier, die eine Schnittmenge bilden. „Dadurch entsteht eine neue, dritte Identität, eine Wir-Identität.“

Guttenberg und Ghadafi – zwei ganz wichtige Fälle

So. Und genau hier kommen, nun wohl ein bisschen weniger überraschens, Karl-Theodor zu Guttenberg und Oberst Gadhafi ins Spiel. Ebenso nämlich wie sich die Menschen eine Wir-Identität im Privaten und Intimen wünschen, wünschen sie sich auch eine Gefühlsidentität mit ihren Führern, erklärt Coolsaet und tippt auf die Kreiszeichnung. Der charismatische KT zu Guttenberg bot dem Volk eine breite emotionale Schnittmenge. Colonel Gadhafi eher nicht. Deswegen wollte das Volk die Beziehung mit dem Letzteren auflösen. Und den Ersteren – emotional betrachtet, jedenfalls – umarmt halten.

Als Referenz für die Richtigkeit dieser These kann der Chef-Poet der Bild-Zeitung, Franz Josef Wagner, dienen. Wohl keiner hat so stellvertretend für die Massen der Innigkeit der Deutschen mit dem Burgherrn gehuldigt. Guttenbergs Besuch samt Ehefrau in Afghanistan, der sei doch nichts anderes eine „Liebeserklärung“ gewesen, schrieb Wagner: „Wir sind eine Familie, wir gehören zusammen. Herz zeigen, Gefühle zeigen. All diese menschlichen Dinge geschehen so selten in der Politik.“ Mit anderen Worten: Das mit uns ging so tief rein, das darf nie… Noch mal Wagner: „ 420.609 Facebook-Fans wünschen sich Guttenberg zurück. Was für eine Lovestory. Deutschland ist verliebt.“ Ganz genau. Uns seit wann durchforsten Verknallte ihre Doktorarbeiten? Ja und, ach, wer vergibt nicht Lügen, die im Grunde doch der Liebesmehrung dienen sollten?

Sexologisch betrachtet, sagt Coolsaet, sind nun die scheiternden Despotien im arabischen Raum Opfer des genauen Guttenberggegenteilseins.  „Die Leute dort vermissen Politiker mit Wärme, die sie mögen können, die ein Wir-Gefühl erzeugen.“ Menschen eben, die selbst zur Liebe fähig seien. „Gadhafi zu erklären, was Liebe ist“, sagt Coolsaet und lacht ein barockes Lachen, „wäre ziemlich schwierig!“ In der Tat, denkt man, während der Professor Champagner eingießt, da füllt sich der Begriff vom demokratischen Frühling mit ganz neuer Bedeutung.

Wie hegt man sie, wie pflegt man sie?

Doch Obacht!, mahnt Coolsaet. Wie in der echten Liebe auch lohne bei der Volk-Politiker-Bindung genaues Hinsehen. Er streckt die Hände auseinander. Fusionen können verschwinden, wenn die Basis nicht stimmt! Die Enttäuschung, siehe Jugendliebe, stelle sich umso sicherer ein, je oberflächlich-verklärter das Volk für die Führer schwärme. „Hatte diese Hetzjagd auf Guttenberg in Teilen der Presse nicht etwas von enttäuschter Schwärmerei?“, fragt Coolsaet nicht unkeck. „Vielleicht wäre es besser gewesen, den Mann nicht so zu idealisieren, für die Deutschen und für ihn.“

Wie pflegt man sie denn fachgerecht, wie lässt man sie gedeihen, die Liebe zwischen Volk und Herrschern? Da ist der Professor überfragt. In seinem Buch empfiehlt er Paaren, gemeinsam zu kochen. Das verbinde Gespräch, Gefühl und Genuss. 32 Jahre lang, immerhin, ging das bei Professor Coolsaet gut. Dann trennte er sich von seiner großen Liebe. Aber in der Küche steht schon Leenje, die neue Dame an seiner Seite. Heute Abend kochen sie, morgen fliegen sie nach Birma, zum Wandern. „Man braucht“, sagt Bo Coolsaet und lacht wie ein kleiner Junge, „natürlich auch Glück!“

Foto: Ulla Kimmig

 

Der Geist der Fünfziger

 Warum es in Europa keine verbindlichen Sicherheitsstandards für AKWs gibt. Und vermutlich nie geben wird

Eine Sekunde lang scheint es so, als würde Günther Oettinger das eine Wort sagen. Wenn sich nach den Stresstests, die er für Europas 143 Atomkraftwerke anstrebe, erklärt der EU-Energiekommissar, herausstellen sollte, dass der ein oder andere Meiler gegen Erdbeben, Flutwellen, Terrorangriffe oder Stromausfälle nicht ausreichend gewappnet sei oder dass seine Notstromreserven, Kühlwasserspeisung oder Rohrleitungen nicht auf Höhe der Zeit seien, wenn diese Meiler also beim Stresstest durchfielen, dann müssten die Regierungen der entsprechenden Länder…

Was? Ja? ABSCHALTEN?

„… jeder für sich seine Konsequenzen ziehen.“

Er kann es nicht sagen, der deutsche Kommissar, selbst wenn er es wollte, denn er darf es nicht. Die Europäische Union besitzt weder die Kompetenz, ihren 27 Mitgliedsländern vorzuschreiben, welche Energieformen sie nutzen sollen. Sie kann noch nicht einmal gemeinsame Sicherheitsstandards für Kernkraftwerke in Europa vorschreiben. Das ist verwunderlich für einen Kontinent, auf dem jedes neue Feuerzeugmodell, jedes Mineralwasser und jedes Handy vor der Zulassung aufwändige EU-Genehmigungsverfahren durchlaufen muss. Schließlich sollen die Verbraucher überall im Binnenmarkt gleich gut gegen die Gefahren des modernen Lebens gesichert sein. Nur gegenüber Atomkraftwerken und ihren potenziell grenzüberziehenden Risiken gilt das nicht.

Der kleine Unterschied zwischen Feuerzeug und Kernkraftwerk

Woher kommt er, der kleine, aber gewichtige Unterschied zwischen Feuerzeug und Kernkraftwerk? Atomsicherheit, lautet die kurz gefasste Antwort, war immer ein zu heißes Eisen für Brüssel. Anders als alle anderen Produkt- und Industriezweige ist die Atom-Regulierung nie Teil der europäischen Vergemeinschaftung geworden. Der Euratom-Vertrag von 1957, das Erweckungswerk für die Nuklearindustrie, ist niemals aufgegangen in späteren, weitergehenden Integrationsverabredungen. Die beiden Euratom-„Schwestern“, die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) lösten sich 1993 mit dem Maastricht-Vertrag in der EU auf, welche selbst wiederum ihre Säulenstruktur mit dem Lissabon-Vertrag 2007 zugunsten einer einzigen Rechtssetzungsgemeinschaft verschmolz. Euratom blieb von allen Schüben europäischen Zusammenwachsens unberührt. Sie ist bis heute eine eigenständige internationale Organisation geblieben.

Im Inhalt wie im Geiste ist die Europäische Atomgemeinschaft eigentlich ein wandelnder Toter. „In dem Bewusstsein, dass die Kernenergie eine unentbehrliche Hilfsquelle für die Entwicklung und Belebung der Wirtschaft (…) darstellt“, heißt es in den Grundsätzen von Euratom, „entschlossen, die Voraussetzungen für die Entwicklung einer mächtigen Kernindustrie zu schaffen“, verpflichten sich die EU-Staaten, sich gegenseitig beim Aufbau von Atomtechnik zu unterstützen. Aus Sicht der fünfziger Jahre ist diese Zielsetzung nachvollziehbar; sie waren geprägt vom Optimismus, die Kerntechnik werde alle Energiesorgen der Menschheit lösen. Wer durch das – wie Euratom im Jahr 1957 entstandene – das Brüsseler Atomium steigt, dem Monument dieses Zukunftsglaubens, findet in dessen Kugeln anrührende Ausstellungen über die damals erwarteten Segnungen der Kernforschung. Genauso gefangen in einer Zeitkapsel blieb der Euratom-Vertrag. Er wurde nie geändert. Ein halbes Jahrhundert der Reifung, Harrisburg, Tschernobyl, die Fortschritte in der Wind- und Sonnenenergie haben im Organigram Europas schlicht nicht stattgefunden.

Ganz praktisch bedeutet dies für die Bauer und Betreiber von Kernkraftwerken, dass sie sich keine Sorgen machen müssen, dass ihnen Leute wie Günther Oettinger oder, schlimmer noch, umweltbewegte Brüsseler Europaabgeordnete, anfangen könnten irgendwelche Vorschriften zu machen. Unter welchen Voraussetzungen Atomkraftwerke genehmigt werden, bestimmen wie jeher allein die nationalen Regierungen.

Bitte keine europäische Mitentscheidung!

Einzelne Politiker haben immer wieder versucht, den Anachronismus Euratom zu beseitigen. Im März 2003 schlug die damalige EU-Umweltkommissarin Margot Wallström vor, den Euratom-Vertrag abzuschaffen und stattdessen Regeln in die Europäische Verfassung aufzunehmen, „die es der EU erlauben, (…) eine hohe nukleare Sicherheit zu erreichen.“ Die Vorschriften zum Umgang mit Nuklearmüll, rügte die Schwedin, seien weniger streng als die EU-Normen für anderen Müll. Der Verfassungskonvent hatte offenkundig Wichtigeres zu tun und lehnte Wallströms Vorschlag ab.

Ab Herbst 2004 versuchte die EU-Kommission die Mitgliedsstaaten für ein Richtlinien-Paket für Nuklearsicherheit zu gewinnen. Kritiker, unter ihnen auch die damalige Bundesregierung, betrachteten die Initiative allerdings skeptisch; sie glaubten, der federführende Industrie-Kommissar verfolge vor allem das Ziel, die „Renaissance“ der Atomkraft mit einem europäischen Pseudo-TÜV-Stempel zu versehen und so im Ansehen zu fördern. „Im Beamtenapparat der Kommission gab es eine klare Haltung, wonach die Atomkraft unverzichtbar sei“, sagt die grüne Europa-Abgeordnete Rebecca Harms, die die Verhandlungen mitverfolgte. Diese Stimmung ist erklärlich; in dieser Zeit galt – nicht nur in Brüssel – alles als gut, was den Klimawandel bremste.

Allen vorweg der Kernkraft-Riese Frankreich, berichten Insider, habe darauf gedrungen, die neue europäische AKW-Sicherheitsrichtlinie möglichst luftig zu halten. In Berlin bekam Rot-Grün Angst, zuviel der falschen Brüsseler Mitsprache könnte am Ende dem deutschen Atomausstieg gefährlich werden. Reiner Baake war damals Staatssekretär im Bundesumweltministerium. „Es waren vor allem französische Beamte in der Kommission, die die Richtlinie vorangetrieben haben“, sagt er. „Das hat unsere Skepsis genährt. Wir wollten uns in dieser Grundsatzfrage keinen europäischen Mehrheitsentscheidungen aussetzen.“

Lässt sich Sicherheit überhaupt messen?

Am Ende langer, zäher Verhandlungen verabschiedete die EU im Juni 2009 eine Sicherheits-Richtlinie, von der sich die Kommission nicht scheute zu behaupten: „Europa wird im Kontext eines erneuten Interesses an der Kernenergie für den Rest der Welt ein echtes Modell.“ Tatsächlich steht in dem Konvolut kein einziges konkretes Wort zur Sicherheit von Atomanlagen. Der Text unterstreicht lediglich erneut die nationalen Zuständigkeiten. „Das ist eine gute Frage, warum die überhaupt ,Sicherheits-Richtlinie’ heißt“, antwortet ein deutscher EU-Diplomat auf entsprechende Nachfrage.

Und jetzt, nach Fukushima? Muss sich die EU nicht endlich bewegen und gleiche Schutzstandards für alle ihre Bürger schaffen, ob sie nun in Tutzing wohnen oder in Temelin? Energiekommissar Oettinger macht den Eindruck, dass es ihm ernst ist, und zwar über freiwillige Stress-Tests hinaus. Er wolle, sagt er, die bestehende Sicherheitsrichtlinie „weiterentwickeln“. „Ich will wissen, in welchem Mitgliedsland sind die Sicherheitskriterien am schärfsten. Und die will ich dann europäisieren.“

Doch selbst der beste politische Wille droht an der schieren Ungreifbarkeit des Projekts scheitern. Selbst eingefleischte Nukleargegner haben Zweifel, ob sich für derartig komplexe Gebilde wie Kernkraftwerke und angesichts von vielfältigen Sicherheitsphilosophien und –praxen, die die jeweilige Nationen für die fraglos beste halten, überhaupt objektiv festlegen lässt, was sicherer ist und was weniger. Konzeptionell seien Technik und Mensch „wirklich am Ende der Fahnenstange angelangt“, sagt der Regierungsberater und Träger des Alternativen Nobelpreises Mycle Schneider.

Der Deutsche hat AKWs überall auf der Welt inspiziert und bei den Aufsichtsbehörden recherchiert, von Japan über Russland bis Großbritannien, aber er würde sich nie ein Urteil über die unterschiedliche Risikofestigkeit der Anlagen zutrauen. Weil die Art von Unglücken unvorhersehbar sei, argumentiert er, sei auch nicht festlegbar, welche Sicherheitskultur die richtige sei. „Was ist gefährlicher“, fragt er rhetorisch, „wenn jemand nach einer Flasche Bier einen nagelneuen Ferrari fährt oder wenn sich ein Formel-Eins-Pilot in einen alten Peugeuot setzt?“ Von Oettingers Stress-Tests hält Schneider deshalb wegen. Sie seien nur ein neuer europäischer Versuch, den „Schein der Sicherheit“ zu wahren.

Was Europa ohne jeden Zweifel nutzen würde, wäre freilich ein neuer, grundlegender Energievertrag. Einer für morgen, nicht einer von Gestern. Statt Euratom könnte er, sagen wir, Euregen heißen. Er könnte beginnen mit dem Satz: „In dem Bewusstsein, dass die regenerative Energie eine unentbehrliche Hilfsquelle für die Entwicklung und Belebung der Wirtschaft darstellt…“

 

Flugverbotszone jetzt!

Der Westen darf nicht länger zögern, die libysche Bevölkerung zu schützen

Auf was wartet der Westen, um eine Flugverbotszone über Libyen einzurichten? Muss Muammar al-Gadhafi erst erneut damit beginnen, die Bevölkerung zu bombardieren? Diesmal vielleicht in einer Schlacht um Tripolis, in der er, wie angekündigt, lieber kämpfend untergehen will als abzutreten?

In der Sondersitzung des UN-Sicherheitsrates am vergangenen Freitag verglich der vom Regime abgefallene libysche Gesandte den derangierten Diktator mit Menschenschlächtern wie Pol Pot und Adolf Hitler. Wie diese beiden rufe auch Gadhafi seinem Volk zu: „Entweder ich beherrsche euch oder ich töte euch!“ Viel spricht dafür, dass der Diplomat mit seiner Einschätzung Recht hat. In einem Interview mit amerikanischen Journalisten trat Gadhafi unlängst auf wie eine Mischung aus Nero und Erich Mielke – völlig entrückt von der Wirklichkeit, gefangen im Wahn von einem ihm ergebenen Volk, rationaler Ansprache unzugänglich.

Angesichts der kompletten Unberechenbarkeit dieses Mannes müssen sich Europa und Amerika darauf vorbereiten, notfalls das Schlimmste für die Libyer zu verhindern, und zwar besser heute als morgen. Doch statt handfester Initiativen für eine Flugverbotszone hört man aus Washington, Berlin, London und Paris nur vage Ankündigungen. Eine Luftraumsperrung müsse als Option „erwogen“ werden, lassen die Außenminister verlauten. Lady Ashton, die „Hohe Vertreterin“ für Außenpolitik in Brüssel, kommt nicht einmal auf den Gedanken, die Europäer zu einer gemeinsamen Position zu drängen. Die Baroness legt es dieser Tage offenbar darauf an, aller Welt zu beweisen, was für eine blamable Fehlbesetzung sie in dem Amte ist.

Eine Flugverbotszone ist keine verkehrspolizeiliche, sondern eine robuste und gefährliche militärische Aktion. Zunächst müsste die libysche Luftabwehr ausgeschaltet werden. Dabei würden aller Voraussicht nach Menschen sterben. Als nächstes müssten westliche Piloten bereit sein, libysche Kampfjets notfalls abzuschießen – und selbst das Risiko eingehen, abgeschossen zu werden. Laut Schätzungen des Londoner International Institute for Strategic Studies (IISS) verfügt Gadhafi über rund 230 Kampfflugzeuge, vor allem MiGs, und 35 Kampfhubschrauber. Das wäre, wenn die Zahlen stimmen, eine beeindruckende Flotte.

Umsetzen könnte Europa eine no-flight zone ohnehin nur im Nato-Verband. Die Allianz verfügt nicht nur über die Awacs-Boeings, Jets und Tankflugzeuge, die dafür notwendig wären, sie hätte auch die notwendige Erfahrung. Schon einmal, 1993, baten die UN die Nato, die Bombardierung von Zivilisten zu verhüten. Damals ging es um den Schutz Bosnien-Herzegowinas. Fast 1000 Tage lang verhindern damals auch Tornados der Bundeswehr, dass serbische Bomber humanitäre Schutzzonen angriffen.

Abdel-Hafidh Ghoga, ein Sprecher der provisorischen Rats der Oppositionellen in Libyen, bittet heute in der New York Times die Weltgemeinschaft, ihren Militärs ein entsprechendes Mandat zu erteilen. „Wenn sie (die Flugverbotszone, d. Red.) sich auf die Vereinten Nationen stützt, dann ist es keine fremde Invasion.”
Westliche Diplomaten halten dem entgegen, dass China und Russland signalisiert hätten, sie würden einer Flugverbotszone nicht zustimmen. Deswegen wäre es unklug vom Westen, jetzt einen Vorstoß zu unternehmen. Das erste stimmt, das zweite nicht. Es wäre durchaus einen Versuch im Sicherheitsrat wert, um zu sehen, ob sich Moskau und Peking im Angesicht eines drohenden Massakers in Libyen und im Kameralicht der Welt wirklich sträuben würden, ein Mandat nach Kapitel 7 der UN-Charta zu erteilen.

Die Bedenken, die das Auswärtige Amt in Berlin gegen eine Flugverbotszone anführt, klingen vollständig nach Ausrede. Die Nachbarstaaten Tunesien und Sudan seien gegen die Idee, heißt es. Ach ja, sind sie das? Muss man das Auswärtige Amt wirklich daran erinnern, dass es in der Abwägung um etwas höhere Rechtsgüter geht als um die nationalen Empfindlichkeiten von Libyens Nachbarländern? Es geht um Menschenleben.

Der wahre Grund für die Zurückhaltung dürfte sein, dass bei einer deutschen Beteiligung (es reicht schon die der Awacs-Besatzungen) der Bundestag Grünes Licht erteilen müsste. Das wäre für die Bundesregierung schon dann eine Herausforderung, wenn sie derzeit einen Verteidigungsminister hätte.

Was Europa ganz ohne große Anstrengungen tun könnte, wäre im Übrigen, sämtlichen libyschen Piloten, die ihre Maschinen nach Norden lenken, ausdrücklich politisches Asyl anzubieten.

 

Zur Sache, Lady Europa!

Catherine Ashton muss mehr Profil zeigen. Sie gefährdet das Ansehen ihres Amtes

Wo ist bloß Lady Ashton? Die arabische Welt erlebt ihr 1989, und die Hohe Vertreterin für Außenpolitik der Europäischen Union kommt aus dem Brüsseler Schneckenhaus nicht heraus. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz erschien die Britin am Wochenende für wenige Minuten vor der Presse. Sie gab einige gestanzte Erklärungen zur Lage im Mittleren Osten ab, bevor ein Journalist sie fragte, ob die EU, also auch sie selbst, angesichts der Umwälzungen in Nordafrika nicht viel zu langsam, zu unscheinbar reagiere.

„Nein“, antwortet Catherine Ashton, „das lasse ich nicht gelten. Es wird unheimlich viel Arbeit geleistet in diesen Tagen. Sie können sie bloß nicht sehen.“

Aber müsste Catherine Ashton nicht genau das ändern? Das Unsichtbare sichtbar machen? Den diplomatischen Anstrengungen dieser Tage ein Bild verschaffen?

Sie ist nicht Stimme, sie ist Ohr

Eigentlich sollte die neue „EU-Außenministerin“, deren Posten der Lissabon-Vertrag schuf, Europa Gesicht und Gewicht auf der Weltbühne verleihen. Dass dies ihre Sache nicht sei, hat die Baroness of Upholland schon klar gemacht, als sie vor gut einem Jahr vom Londoner Oberhaus ins Brüsseler EU-Viertel umsiedelte.

Die Frau versteht sich nicht als Stimme, nein, sie ist ganz Ohr. Sie hört zum Beispiel, dass es EU-Staaten gibt, die Mubarak lieber heute als morgen loswerden möchten. Sie hört, dass es andere gibt, die mahnen, der Diktator werde für die Übergangsphase gebraucht. Und sie sieht schließlich, dass, wenn es brenzlig wird, die Großen der EU ihre Außenpolitik ganz schnell an ihr vorbei machen.

Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien veröffentlichten vergangene Woche – ohne jede Brüsseler Konsultation – eine gemeinsame Erklärung, in der sie einen „zügigen und geordneten Übergang zu einer Regierung“ in Ägypten fordern. Der Wandel müsse „jetzt“ beginnen. In Kairo geriet darauf der Außenminister in Rage. „Das Verlangen einiger Seiten, dass eine Übergangsperiode jetzt beginnen müsse, ist inakzeptabel und wird als Einmischung in innere Angelegenheiten betrachtet“, zürnte Außenminister Ahmed Abul-Gheit.

Selbstkritik im Apparat

Ashton fühle sich in ihrem Management der arabischen Umwälzung bestätigt, heißt es aus ihrem Umfeld. Sie habe sich von Anfang an in der Mitte des europäischen Meinungsspektrums positioniert – emphatisch gegenüber den Demonstranten auf dem Tahrir-Platz, aber auch nicht pathetisch gegen Mubarak.

Nicht zuletzt nämlich, so gibt man in Brüssel zu bedenken, würde ein Rücktritt des Langzeitherrschers einen Countdown in Gang setzen. Nach geltender ägyptischer Verfassungslage müsste innerhalb von 60 Tagen ein neuer Präsident gewählt werden – was angesichts einer völlig unentwickelten Parteilandschaft tatsächlich reichlich früh wäre.

Aus dem keimenden Apparat des Europäischen Auswärtigen Dienstes hat Ashton mittlerweile ihren Mittelost-Direktor Hugues Mingarelli in die Region geschickt. Er soll Ansprechpartner für die EU ausmachen und Ideen für eine neue Strategie gegenüber Nordafrika entwickeln. Bei einem Zwischenstopp am Dienstag in Brüssel zog der Diplomat eine selbstkritische Zwischenbilanz.

„Die Folgen unserer Menschenrechtspolitik waren in Ländern wie Tunesien kaum spürbar“, sagte Mingarelli in einer Anhörung im Europäischen Parlament, „wir müssen prüfen, wie wir das besser machen können“. Eine Umsteuerung der Hilfsgelder gehöre sicherlich dazu. Ganz konkret werden die Europäer aus Tunesien derzeit um Druckerpressen und Radiotechnik gebeten – denn die gab es bisher nur im Staatsbesitz.

Journalisten mitnehmen? Das will überdacht sein

Dass es auch für die Hohe EU-Vertreterin sinnvoll wäre, sich entschlossener der Hebel der Massenmedien zu bedienen, das begreift Catherine Ashton noch immer nicht. Voraussichtlich in der kommenden Woche, so ist zu erfahren, will sie selbst nach Ägypten reisen, auf dem Tahrir-Platz vielleicht sogar Oppositionelle treffen. Ob  – was sonst bei den meisten Politikerreisen absolut üblich ist – in ihrem Tross auch Journalisten mitgenommen würden, sei noch nicht entschieden. Es gäbe dazu „zwei Denkschulen“ in Ashtons Kabinett, heißt es. Als ob noch ernsthaft geklärt werden müsse, ob Europa mehr Aufmerksamkeit braucht.

Die grüne Europaabgeordnete Franziska Brantner empfiehlt Ashton, in Ägypten Frauen zu treffen statt alter Männer. „Das würde das richtige Signal setzen, auch gegen die Islamisten. Die jungen Frauen wissen, sie stehen jetzt vor der Wahl: Beruf oder Burka.“ Warum, fragt Brantner, richtet Ashton nicht gleich eine Konferenz mit arabischen Frauen aus? „Das immerhin könnte sie tun, ohne es sich mit den Mitgliedstaaten zu verscherzen.“

Das könnte sie in der Tat. Und noch viel mehr. Diese Wochen sind definierende Momente für das Amtsprofil der europäischen „Außenministerin“, auch für die Zukunft, auch für Ashtons Nachfolger. Sie muss sie nutzen, schleunigst.

 

Und sie bewegt sich doch

Wie die Europäische Union auf die Revolutionen vor ihrer Haustür antwortet

Ein Protokoll

Nein, Brüssel ist doch kein Raumschiff. Es ist ein gewaltiger Tanker mit einem 27-Zylinder-Dieselmotor. Bis das sperrige Aggregat anspringt und den Pott in Fahrt bringt, dauert es eine Weile. So richtig auf Touren gekommen, kann er aber durchaus einen klugen Kurs ziehen. Das jedenfalls ist die bisherige Bilanz für den außenpolitischen Ernstfall Ägypten.

Bis zum vergangenen Freitag hat die Europäische Union noch geglaubt, sie könne die Revolutionen in Arabien im diplomatischen Gremienlauf verwalten. „Es gibt keine strukturierte Gesprächsvorbereitung über Ägypten“, antwortete ein Diplomat auf die Frage, wie Europa mit dem Wandel vor seiner Haustür umzugehen gedenke. Nicht? Nein, sagt der Mann, da sei nichts weiter. „Niemand hat bisher eine Generaldebatte über das Mittelmeer eingefordert.“ In Kairo riefen zu diesem Zeitpunkt Tausende Demonstranten „Mubarak: go go go!“, zogen Panzer auf, verhängte das Regime eine Ausgangssperre und drehte das Internet ab.

Eine SMS bringt die Maschinerie in Gang

Drei Tage später, auf dem Höhepunkt der ägyptischen Zeitenwende, sollten die Außenminister der EU in Brüssel zusammenkommen. Um kurz nach 16 Uhr am Freitag springt die außenpolitische Maschine an. In der Ständigen Vertretung Deutschlands bei der EU piepst das Handy von Hans-Dieter Lucas. Lucas ist der deutsche Botschafter im Politischen und Sicherheitspolitischen Komitee (PSK), dem Gremium, das die Außenministertreffen in Brüssel vorbereitet. Zweimal pro Woche treffen sich die 27 Gesandten der EU-Länder, um das Weltgeschehen in ministergerechte Häppchen zu zerlegen. Die SMS teilt mit: Die EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton wünsche Ägypten auf die Agenda für das Außenministertreffen zu setzen. Europa müsse sich positionieren.

Das Wochenende über feilen Lucas und seine Kollegen in Berlin und Kairo an einem „Non-Paper“, einem internen Leitfaden, mit dem Guido Westerwelle in Brüssel ins Rennen gehen soll. Auf dem zweiseitigen Dokument wagen sich die Deutschen weit vor. „Die EU sollte erwägen, eine Wiederholung der Parlamentswahlen von 2010 zu unterstützen“, lautet ein Kernsatz. Im Klartext: Die Ägypter sollen so schnell wie Möglichkeit die Gelegenheit bekommen, Mubarak aus dem Amt zu fegen.

Am Montagvormittag geht es hektisch zu im 5. Stock des Justus-Lipsius-Gebäudes, dem gewaltigen Brüsseler Granitkubus, in dem sich die Staatenvertreter versammeln. In den Delegationsbüros versuchen die Diplomaten sämtlicher EU-Länder in aller Eile Schlussfolgerungen für die Minister vorzubereiten, ein Blatt Papier, auf das sich alle einigen können. Ab 14 Uhr wollen die Chefs über Ägypten reden. Aber wo sollen so schnell konsensfähige Formulierungen herkommen? Die unangenehme Frage, die plötzlich und ohne Generaldebatte gelöst werden muss, lautet, wie Europa seine Werte verteidigen kann, ohne sogleich seinen langjährigen Partner Hosni Mubarak fallen zu lassen.

„Die politische Uhr tickt“

Im abgeschirmten Sitzungssaal des Ratsgebäudes entspinnt sich eine lebhafte Diskussion. An der Seite Deutschlands, steht, grob gesprochen, das nördliche EU-Lager. Die arabische Welt stehe an einer „Wegscheide“, sagt der schwedische Außenminister Carl Bildt. „Die biologische und politische Uhr tickt. Die Ära Mubarak ist vorbei.“ Europa müsse sich schnell und klar engagieren, immerhin sei das 80-Millionen-Land Ägypten nach Russland Europas größter Nachbar.

Die südlichen EU-Länder raten eher zur Vorsicht. Die Gefahr einer islamistischen Machtübernahme sei nicht auszuschließen, mahnt der zypriotische Minister, „wir sollten vorsichtig sein, was wir uns wünschen.“

Die griechische Vize-Außenministerin äußert die Sorge, eine neue Flüchtlingswelle könne auf Europa zurollen. William Hague, der Brite, findet, die EU solle nicht „den Wechsel um den Wechsel Willen“ unterstützen. „Es handelt sich um eine große Chance, aber auch um ein großes Risiko.“

Die dänische Außenministerin Lene Espersen kontert, sie sei „verstört über diese Diskussion“. Europa dürfe doch Stabilität nicht mit Demokratie aufrechnen! Die Minister reden gut zwei Stunden, fast jeder möchte zu Wort kommen. Lady Ashton macht sich Notizen, sie muss aus all dem die eine EU-Position destillieren.

Aus dem Magma des Chaos…

Ein paar Meter vom deutschen Delegationsbüro entfernt hängt ein leuchtender Schriftzug an der Flurwand, designt von einem belgischen Künstler. „Order emerges again and again from the magma of chaos“, wieder und wieder wächst Ordnung aus der Magma des Chaos. Es ist, in treffend poetischen Worten, das Funktionsprinzip der EU. Bloß blubbert ausgerechnet jetzt, in einem definierenden Moment für die Peripherie der Staatengemeinschaft, das Brüsseler Chaos so gewaltig wie nie zuvor.

Die Revolutionen in Arabien erwischen eine EU in der Inventur. Die bisherige außenpolitischen Doppelstruktur – Strategiefindung im Rat, Verwaltung und Vertretung durch die Kommission – ist aufgelöst, die neue starke Säule, Ashtons Europäischer Auswärtiger Dienst (EAD), noch nicht funktionsfähig.

Zum 1. Januar wurden 1.643 außenpolitische Beamte aus Kommission und Rat auf neu geschaffene EAD-Stellen versetzt, mit neuen Titeln und E-Mail-Adressen versehen und neuen Kollegen zugewiesen. Political animals aus Regierungsgehegen treffen dieser Tage in vielen Büros ungebremst auf  Budgetverwalter und Vertragstechniker des EU-Stadls. „Es herrscht eine gewaltige Unruhe im Apparat“, sagt einer von ihnen verzweifelt. Der wichtige Posten für Strategische Planung beispielsweise ist noch immer nicht besetzt.

Ashtons Mann in Kairo, der Belgier Marc Franco, sorgte derweil bei liberalen arabischen Bloggern für ungläubiges Staunen, als er im Dezember in einem Beitrag für die Zeitung Al-Ahram schrieb: „Man muss sagen, Ägypten hat in den vergangenen Jahren mutige Schritte unternommen, um eine Kultur der Menschenrechte auf allen Ebenen der Gesellschaft zu fördern.“ Das war wenige Tage nachdem Mubaraks NDP bei den Parlamentswahlen aufgrund von Einschüchterungen und Boykotts der Opposition eine beispiellose Mehrheit an sich gerissen hatte.

Zu allem Überfluss trat vergangene Woche auch noch der Generalsekretär der Mittelmeerunion zurück, jener Prestige-Plattform, mit dem die EU zu einer runderneuerten Zusammenarbeit mit Nordafrika finden wollte. Der Mann, ein Jordanier, sei frustriert gewesen von der EU, heißt es – und die EU von ihm. „So richtig unzufrieden mit seinem Rücktritt ist niemand“, sagt ein Insider in Brüssel. Diplomatisch steht die EU gerupft da.

Schweigen im Europaparlament

Kraft- und mutlos präsentiert sich auch das Europäische Parlament. Zwar versteht sich die Völkerversammlung, befeuert durch die neuen Kompetenzen des Lissabon-Vertrages, immer mehr als Antreiber der Mitgliedsstaaten. Doch eigene Ideen einspeisen in die erlauchte Runde der EU-Außenminister, das wollte es dann lieber doch nicht. Das Europaparlament, befindet selbstkritisch der liberale Abgeordnete Alexander Graf Lambsdorff, arbeite außenpolitisch noch genauso schwachbrüstig wie die EU insgesamt. Das Bild, dass Europa nach außen abgebe, erinnere ihn das unfertige Gebiss seiner Kinder: „Die Milchzähne sind schon raus, aber die Erwachsenenzähne noch nicht drin. Und überall klaffen Lücken.“

Und doch, es reckt sich, dieses Europa. Am Montagabend veröffentlichen die Außenminister die Schlussfolgerungen ihres Treffens. Im vorletzten Absatz fordern sie das Regime in Ägypten auf, „den Weg für freie und faire Wahlen zu ebnen“. Gemeint sei damit, beteuern die Deutschen, nicht etwa die ohnehin im Herbst anstehenden Präsidentenwahlen – sondern neue Parlamentswahlen.

Ob dies nicht einem Aufruf an Mubarak gleichkäme, aufzugeben, will ein Journalist von Catherine Ashton wissen. Die Lady wirkt unsicher. „Wir wollen“, antwortet sie, „dass die Menschen selbst bestimmen können. Wir wollen uns nicht in innere Angelegenheiten einmischen.“

Dass die EU das eine tun kann und das andere lassen, das scheint Ashton in diesem Moment selbst nicht ganz zu glauben. Guido Westerwelle immerhin hat schon konkrete Wünsche an die neue Regierung. „Wir wollen nicht“, sagte er mit einiger Inbrunst zum Abschied aus Brüssel, „dass diejenigen, die Intoleranz und Fundamentalismus predigen, auf dieser Welle an die Macht gelangen, und dass die Entwicklung dann doch wieder in Unfreiheit endet.“

Der entscheidende Unterschied zwischen der Reaktion Europas und Amerikas bestand bislang darin, dass Europa bei der Forderung nach Wandel das Wörtchen „jetzt“ vermieden hat. Das erschien klug. Denn wo sind die wahrhaft demokratischen Parteien, die jetzt schon imstande wären, ein neues Ägypten zu bauen?

Heute morgen jedoch veröffentlichten die Staatschefs von Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Italien und Spanien eine neue Position. Gleichsam als „Big Five“ erklären sie: „Nur ein zügiger und geordneter Übergang zu einer Regierung, die sich auf eine breite Basis stützt, wird es ermöglichen, die Herausforderungen, vor denen Ägypten heute steht, zu bewältigen. Der Prozess dazu muss jetzt beginnen.“

Im Privatrecht nennt man so etwas Geschäftsführung ohne Auftrag. Dass dies jeden der übrigen 22 EU-Partner begeistert, darf bezweifelt werden. Am 21. Februar treffen sich die Außenminister zum nächsten Positionsvergleich in Brüssel. Man darf gespannt sein, wie sich Europa dann neu sortiert – und für wie lange.

 

Wutbelgier

In Belgien findet derzeit – freilich nicht zum ersten Mal – ein interessantes Experiment statt. Wie lange kann ein Land ohne Regierung auskommen? Bisher sind es summa summarum 200 Tage. Solange bemühen sich flämische und wallonische Parteien in Belgien schon vergeblich, ein Kabinettsteam zu bilden.

Die Gründe dafür zu erhellen, wäre ein müßiges Unterfangen. Belgische Koalitionspolitik ist die Fortsetzung des Dadaismus mit anderen Mitteln; jeder Durchdringungsversuch endet ohne Erkenntnisgewinn im engeren Sinne. Dies ist höchstwahrscheinlich ein Grund dafür, dass es ein Internet-Video des Flamen Kris Janssens seit Anfang Januar zu beachtlicher Prominenz im Königreich gebracht hat.

In einem vier Minuten langen Ausbruch (mit deutschen Untertiteln hier erhältlich) empört sich der junge Mann beeindruckend treffsicher über die Lage der Nation, insbesondere über die jüngste Ankündigung eines ranghohen Politikers, es sei jetzt an der Zeit, „ruhig“ darüber nachzudenken, wie man die „Regierungsbildung am besten anfange“.

Janssens, ein junger Journalist, ist zum landesweit bekannten Youtube-Sinnbild des Wutbelgiers geworden. „Haben diese Menschen gar kein Schamgefühl?“, fragt er mit großen Augen. „Wenn deine Dusche kaputt ist und du rufst einen Klempner, und nach 200 Tagen, für die du ihn bezahlt hast, sagt er, es sei jetzt an der Zeit ruhig darüber nachzudenken, wie man am besten anfange, ja, dann gehört der doch vor Gericht!“ Youtube starten und angucken. So haben Sie Belgien noch nie verstanden.

Das Ausbleiben einer Regierung macht sich im Alltagsleben (jedenfalls in dem des Korrespondenten) übrigens kaum bemerkbar. Belgien ist eben vor allem eine gesunde Multi-Level-Bürokratie. Und doch, Tausende von Belgiern fühlen sich offenbar schlicht verhöhnt von gewählten Politikern, die die Politik verweigern. Vor wenigen Tagen zog es, ganz wie Janssens es sich wünschte, mehrere Zehntausend auf die Straße, weil sie ganz einfach Sehnsucht haben nach denen da oben.

Solche Proteste gehen zu Herzen. Die Politiker sollten die Erinnerung an sie speichern und pflegen. Seht mal, können sie vielleicht irgendwann sagen, so sehr habt ihr uns gewollt, damals.

 

Ordnungsmacht Deutschland

Was sich die Bundesregierung in Wahrheit von Europa wünscht 

Es gibt eine neue Ordnungsmacht in Europa. Sie hat eine mächtige Waffe. Die Ordnungsmacht heißt Deutschland. Ihre Waffe heißt Geld. Es ist das Geld, das Deutschland nur dann zur Stabilisierung des Euro bereit stellen wird, wenn dieser Euro künftig nach seinen Regeln funktioniert.

So sagt es Wolfgang Schäuble natürlich nicht, wenn er, wie heute, in Brüssel mit den übrigen Finanzministern der EU zusammenkommt, um über die Zukunft des Euro zu reden. Er spricht dann lieber von einem „Gesamtpaket“, von einer „nachhaltigen Gesamtstrategie“, die Deutschland sich für die „Ausgestaltung des Rettungsmechanismus“ wünsche. Hinter all diesen Formeln und jenseits des Gezerres um eine Verbreiterung des Rettungsschirms steckt, und genau das treibt Schäuble, eine ebenso simple wie unangenehme Wahrheit:

Die Währungsunion kam zu früh. Ihr hätte eine Budget-Union vorausgehen müssen, die wenigstens annähernd gleiche Wettbewerbsfähigkeit unter den Euro-Schöpfern hergestellt hätte. Steuern, Renten, Arbeitsrecht, die Gesundheitswesen, öffentliche Gehälter, all dies hätte transnational vor der Einführung des Euro auf den Brüsseler Prüfstein gehört, um zu verhindern, dass sich einzelne Staaten Luxus und Bequemlichkeit auf Kosten anderer leisten.

Es hilft der EU nicht mehr, den Holzweg der vergangenen zehn Jahre zu stabilisieren. Die Eurozone muss nicht weniger tun, als den Reset-Button zu drücken. All dies weiß die Bundesregierung nicht nur. Sie will es auch. Bloß deutlich aussprechen möchte sie es – noch – nicht.

Es ist verständlich, dass Schäuble und die Kanzlerin die anstehenden Renovierungsarbeiten bisher nur verschwurbelt und dosiert ankündigen. Denn die „Nachvertiefung“, die Europa ins Haus steht, ist eine heikle Angelegenheit. Sie stößt an die Grenzen dessen, was die Parlamente und Bevölkerungen in den Mitgliedsstaaten an Machtübertragung erträglich finden werden. Die wirtschaftspolitische Integration, die der Kontinent nachzuholen hat, geht in ihrer Regelungsintensität weit über das Level hinaus, welches die Europäer mit dem Vertrag von Lissabon gerade erst zähneknirschend akzeptiert haben.

Was heißt das? Um beim beliebten Bild des Hauses zu bleiben: Euro-Europa ist ein Gebäude, das um immer neue Zimmer erweitert wurde, ohne dass zugleich für neue tragende Wände gesorgt wurde. Wegen dieses Versäumnisses schwankt jetzt das ganze Gebäude. Zum Glück lassen sich tragende Wände nachrüsten. Dafür muss (Anschauungsunterricht auf jeder Baustelle) das Gebäude allerdings provisorisch abgestützt werden. Diese Funktion der provisorischen Träger erfüllen jene 750 Milliarden Euro, die der Internationale Währungsfond und die EU-Staaten als Notfonds bereitgestellt haben. Mit ihnen lassen sich Wackelkandidaten so lange halten, bis sie wieder genug eigene Kraft gewonnen haben, am Kapitalmarkt eigenes Geld aufzunehmen.

Das Problem, das sich aktuell zeigt, ist allerdings, dass diese Notstützen nicht so dick gefertigt waren, wie die EU-Chefs glaubten. Zwar haben die EU-Staaten 440 Milliarden Euro in der Europäischen Finanzstabilisierungsfaszilität (EFSF) zusammen gesammelt. Doch die sind nicht ganz ihr vieles Geld wert. Der Grund: Nur 60 Prozent der Geberstaaten verfügen über den AAA-Spitzenstatus der Ratingagenturen. Damit die EFSF am Markt voll glaubwürdig ist, müssen die Euro-Staaten die Kredite übersichern. Die tatsächlich zur Verfügung stehende Stützungsreserve reduziert sich damit auf etwa 250 Milliarden Euro.

Gegen diese harten Marktgesetze kann sich Deutschland zwar nicht wehren (und wird deshalb über kurz oder lang weiteren Milliardenzahlungen in den Schirm zustimmen). Was Deutschland aber kann, ist – und hier kommen wir zur Waffe –, einen politischen Preis für seine Rettungszahlungen zu verlangen. Bis zum März, so bekräftigte Schäuble in Brüssel, soll der Europäische Rat prüfen, wie sich mehr Disziplin im Euroraum durchsetzen lässt. Die Möglichkeiten reichen von besserer wirtschaftspolitischer Koordinierung über Überwachung von Haushaltspolitiken bis hin zu Sanktionen für Defizitsünder. Deutschland wird die Kraft seiner Scheine nutzen, um möglichst viel Härte durchzusetzen. Es praktiziert, was man durchaus neu nennen kann, Realpolitik mit dem Scheckbuch.

Eine wirklich strenge europäische Wirtschaftssteuerung, wie die Deutschen sie sich wünschen, wird ohne eine Änderung der europäischen Verträge allerdings kaum zu bekommen sein. Die Machtverschiebung, die sie bewirken würde, liefe darauf hinaus, die Budgetrechte der nationalen Parlamente zugunsten von mehr europäischer Kohärenz zu beschränken. Ob die das mitmachen? Als Europa sich den Euro gab, da hat es, Fazit, auch Abschied genommen von der nationalen Haushaltssouveränität. Es wusste es bloß nicht.

 

Die Entdeckung Europas

Liebe Freunde dieses Blogs,

heute gibt es eine Mitteilung in eigener Sache. Nach drei Jahren als Korrespondent in Brüssel war es an der Zeit, Bilanz zu ziehen über die Höhen und Tiefen der Europäischen Union, wie ich sie erlebt habe.

So nicht, Europa! lautet der Titel des Buches, das soeben erschienen ist.

Die drei großen Fehler der EU, die ich darin nachzeichne, lauten:

1. Die EU regelt Kleines zu groß und Großes zu klein
2. Die EU regelt Weiches zu hart und Hartes zu weich
3. Die EU bewegt sich oben zu schnell und unten zu langsam

Vor allem aber wäre Europa nicht Europa, wenn es nicht seine Schwarmintelligenz nutzen würde. In diesem Sinne möchte ich allen Usern dieses Blogs danken, dass sie in den vergangenen Jahren mit ihrer Kritik, ihren Korrekturen und Anregungen dazu beigetragen, dieses Buch mit-entstehen zu lassen.

Selbstredend, dass trotzdem nicht jeder Leser mit meiner Analyse einverstanden sein wird. Aber, um aus dem Schlusskapitel zu zitieren:

„Selbst die europafreundlichsten unter ihnen werden erkennen, dass es, sobald es um handfeste Interessen geht, nicht mehr ausreicht, die EU als größtes und erfolgreichstes Friedensprojekt aller Zeiten zu preisen und den Rest einer Brüsseler Bürokratenherrschaft zu überlassen. Sie werden vielmehr feststellen, dass die EU keineswegs nur Gutes tut.

Andererseits werden die Euroskeptiker merken, dass sie Europa öfter und dringender brauchen, als sie bislang glaubten. Sie werden feststellen, dass der Nationalstaat vielleicht noch immer die beste Karosserie für Demokratie ist – aber eben nicht mehr immer das beste Werkzeug für die großen Räder einer verzahnten Welt.

Wenn das passiert, wenn Hartes hart behandelt wird, wenn das Große vom Kleinen getrennt und groß gespielt wird, und wenn die Bürger das Gefühl bekommen, bei all dem etwas mitzureden zu haben, kann daraus die Entdeckung Europas werden.“

In diesem Sinne freue mich, auch und gerade in diesem Forum, auf eine gewohnt kritische Bilanz-Debatte.

Der Ring ist eröffnet.