Was sich die Bundesregierung in Wahrheit von Europa wünscht
Es gibt eine neue Ordnungsmacht in Europa. Sie hat eine mächtige Waffe. Die Ordnungsmacht heißt Deutschland. Ihre Waffe heißt Geld. Es ist das Geld, das Deutschland nur dann zur Stabilisierung des Euro bereit stellen wird, wenn dieser Euro künftig nach seinen Regeln funktioniert.
So sagt es Wolfgang Schäuble natürlich nicht, wenn er, wie heute, in Brüssel mit den übrigen Finanzministern der EU zusammenkommt, um über die Zukunft des Euro zu reden. Er spricht dann lieber von einem „Gesamtpaket“, von einer „nachhaltigen Gesamtstrategie“, die Deutschland sich für die „Ausgestaltung des Rettungsmechanismus“ wünsche. Hinter all diesen Formeln und jenseits des Gezerres um eine Verbreiterung des Rettungsschirms steckt, und genau das treibt Schäuble, eine ebenso simple wie unangenehme Wahrheit:
Die Währungsunion kam zu früh. Ihr hätte eine Budget-Union vorausgehen müssen, die wenigstens annähernd gleiche Wettbewerbsfähigkeit unter den Euro-Schöpfern hergestellt hätte. Steuern, Renten, Arbeitsrecht, die Gesundheitswesen, öffentliche Gehälter, all dies hätte transnational vor der Einführung des Euro auf den Brüsseler Prüfstein gehört, um zu verhindern, dass sich einzelne Staaten Luxus und Bequemlichkeit auf Kosten anderer leisten.
Es hilft der EU nicht mehr, den Holzweg der vergangenen zehn Jahre zu stabilisieren. Die Eurozone muss nicht weniger tun, als den Reset-Button zu drücken. All dies weiß die Bundesregierung nicht nur. Sie will es auch. Bloß deutlich aussprechen möchte sie es – noch – nicht.
Es ist verständlich, dass Schäuble und die Kanzlerin die anstehenden Renovierungsarbeiten bisher nur verschwurbelt und dosiert ankündigen. Denn die „Nachvertiefung“, die Europa ins Haus steht, ist eine heikle Angelegenheit. Sie stößt an die Grenzen dessen, was die Parlamente und Bevölkerungen in den Mitgliedsstaaten an Machtübertragung erträglich finden werden. Die wirtschaftspolitische Integration, die der Kontinent nachzuholen hat, geht in ihrer Regelungsintensität weit über das Level hinaus, welches die Europäer mit dem Vertrag von Lissabon gerade erst zähneknirschend akzeptiert haben.
Was heißt das? Um beim beliebten Bild des Hauses zu bleiben: Euro-Europa ist ein Gebäude, das um immer neue Zimmer erweitert wurde, ohne dass zugleich für neue tragende Wände gesorgt wurde. Wegen dieses Versäumnisses schwankt jetzt das ganze Gebäude. Zum Glück lassen sich tragende Wände nachrüsten. Dafür muss (Anschauungsunterricht auf jeder Baustelle) das Gebäude allerdings provisorisch abgestützt werden. Diese Funktion der provisorischen Träger erfüllen jene 750 Milliarden Euro, die der Internationale Währungsfond und die EU-Staaten als Notfonds bereitgestellt haben. Mit ihnen lassen sich Wackelkandidaten so lange halten, bis sie wieder genug eigene Kraft gewonnen haben, am Kapitalmarkt eigenes Geld aufzunehmen.
Das Problem, das sich aktuell zeigt, ist allerdings, dass diese Notstützen nicht so dick gefertigt waren, wie die EU-Chefs glaubten. Zwar haben die EU-Staaten 440 Milliarden Euro in der Europäischen Finanzstabilisierungsfaszilität (EFSF) zusammen gesammelt. Doch die sind nicht ganz ihr vieles Geld wert. Der Grund: Nur 60 Prozent der Geberstaaten verfügen über den AAA-Spitzenstatus der Ratingagenturen. Damit die EFSF am Markt voll glaubwürdig ist, müssen die Euro-Staaten die Kredite übersichern. Die tatsächlich zur Verfügung stehende Stützungsreserve reduziert sich damit auf etwa 250 Milliarden Euro.
Gegen diese harten Marktgesetze kann sich Deutschland zwar nicht wehren (und wird deshalb über kurz oder lang weiteren Milliardenzahlungen in den Schirm zustimmen). Was Deutschland aber kann, ist – und hier kommen wir zur Waffe –, einen politischen Preis für seine Rettungszahlungen zu verlangen. Bis zum März, so bekräftigte Schäuble in Brüssel, soll der Europäische Rat prüfen, wie sich mehr Disziplin im Euroraum durchsetzen lässt. Die Möglichkeiten reichen von besserer wirtschaftspolitischer Koordinierung über Überwachung von Haushaltspolitiken bis hin zu Sanktionen für Defizitsünder. Deutschland wird die Kraft seiner Scheine nutzen, um möglichst viel Härte durchzusetzen. Es praktiziert, was man durchaus neu nennen kann, Realpolitik mit dem Scheckbuch.
Eine wirklich strenge europäische Wirtschaftssteuerung, wie die Deutschen sie sich wünschen, wird ohne eine Änderung der europäischen Verträge allerdings kaum zu bekommen sein. Die Machtverschiebung, die sie bewirken würde, liefe darauf hinaus, die Budgetrechte der nationalen Parlamente zugunsten von mehr europäischer Kohärenz zu beschränken. Ob die das mitmachen? Als Europa sich den Euro gab, da hat es, Fazit, auch Abschied genommen von der nationalen Haushaltssouveränität. Es wusste es bloß nicht.