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Was Sie nie über das neue Europa wissen wollten. Aber sollten

 

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Mit dem Lissabon-Vertrag über die Europäische Union ist es wie mit der Bibel vor der Erfindung des Buchdrucks. Jeder hat schon einiges davon gehört und glaubt ungefähr zu wissen, was drinsteht. Aber weil die ganze dicke Schrift viel zu kompliziert ist um sie gänzlich zu verstehen, verlässt sich für die Interpretation jeder auf seine persönlichen Priester.

Für die einen ist es die Bundesregierung.
Für die anderen die EU-Kommission.
Für wieder andere die Tagespresse.
Oder der EU-Rebell Peter Gauweiler.

Dieser Blog will in einer kleinen Serie versuchen, einen eigenen, kritischen Blick auf das 450-Seitenwerk zu werfen, das die Europäische Union an Haupt und Gliedern straffen soll.

Denn der Countdown läuft.

Am 12. Juni stimmen die Iren in einem Referendum über den Vertrag ab. Sie sind das einzige Volk Europas, das nach seiner Meinung über den Lissabon-Vertrag gefragt wird. In den übrigen 26 Mitgliedsstaaten entscheiden die Parlamente. In Deutschland haben Bundestag und Bundesrat bereits zugestimmt. Anders als in Irland sind die meisten Festlandeuropäer völlig unterinformiert über die Auswirkungen der neuen Bedienungsanleitung für Europa. Das ist bedenklich, denn der Vertrag verändert eine Menge. Und vieles davon wäre es wert, dem Feuer einer kritischen öffentlichen Debatte ausgesetzt zu werden.

Um – wenn auch etwas verspätet – eine solche Diskussion anzustoßen, will sich dieser Blog in den kommenden Tagen folgender, durchaus provokant gemeinter Fragen annehmen:

I. Welche sind die grundlegenden Änderungen, die der Lissabon-Vertrag bringt?

II. Entmachten sich die Mitgliedsstaaten selbst, wenn sie den Vertrag unterzeichnen?

III. Droht mit dem Lissabon-Vertrag die Verwässerung deutscher Rechtsstandards?

IV. Stärkt der Lissabon-Vertrag die EU wirklich als Global Player?

V. Bringt der Lissabon-Vertrag wirklich mehr Demokratie?

Widerspruch ist willkommen.

Wir beginnen mit der ersten Frage:

I. Welche sind die grundlegenden Änderungen, die der Lissabon-Vertrag bringt?

Fangen wir mit den Veränderungen an, die der Lissabon-Vertrag an der demokratischen Architektur des Kontinents bewirkt. In zwei Sätzen lautet sie: Die horizontale Demokratie in Europa, also diejenigen zwischen den 27 Staaten, wird gestärkt. Die vertikale Demokratie, also die vom Bürger zur gesetzgebenden Instanz, wird geschwächt.

Im Europäischen Rat, also dort, wie die Staats- und Regierungschefs oder die Fachminister zusammenkommen, um verbindliche Beschlüsse für die EU zu fassen, soll künftig auch in Bereichen, die in Grundrechte eingreifen, mit Mehrheit entschieden werden. Bisher war die europäische Fortentwicklung in diesem Bereich auf Einstimmigkeit angelegt. Künftig aber kann eine Mehrheit von Staaten (die auch 65 Prozent der Einwohner Europas stellen müssen), verbindliche Entscheidungen treffen.

Denkbar ist daher, dass einzelne Länder in Bereichen überstimmt werden, die traditionell zu den Kernkompetenzen der Nationalstaaten gehörten. Namentlich in der Justiz- und Innenpolitik. Zwar neigt Brüssel traditionell zu einvernehmlichen Lösungen. Aber im Konfliktfall ist es denkbar, dass künftig fremde Staaten darüber entscheiden, ob der eigene Staat ein weiteres Stück Souveränität abgibt.

Möglicherweise bringt dieses Verfahren gerade für Deutschland mehr Nutzen als Schaden. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass das größte Gründungsland der EU überstimmt wird, ist gering. Gleichwohl setzt der Lissabon-Vertrag ein staatspolitischen Experiment in Gang, das historisch beispiellos ist.

Er sieht vor, dass die EU Staaten sich gegenüber einander so verhalten wie ein Demos, eine Bürgerschaft von Staaten. In dieser kann es ebenso Gewinner wie Verlierer geben.

Zwar versucht der Vertrag, diesen Effekt zu mildern, indem es jedem Staat bestimmte Einspruchsrechte gegen die neuen Verfahren an die Hand gibt. Über diese werden wir noch mehr erfahren. Doch diese Notbremsen reichen nicht aus, um Beschlüsse, die eine Ratsmehrheit unbedingt durchsetzen möchte, tatsächlich zu stoppen.

Mit dem Lissaboner Vertrag wird deutlicher, was die EU eigentlich ist, ja, vielleicht sein muss, wenn sie sich in der Welt beweisen will: Eine Demokratiendemokratie, eine Gouvermentaldemokratie oder schlicht: eine Polikratie, eine Herrschaft der Staaten.

Eine kleine und wichtig Einschränkung allerdings (die oft unterschlagen wird) gleich vorweg: Das Prinzip der doppelten Mehrheit im Rat tritt erst ab 2014 in Kraft – eine Folge polnischer Obstruktion während der Schlussphase der Verhandlungen. Die wichtigsten Auswirkungen des Lissabon-Vertrags werden also noch eine ganze Weile auf sich warten lassen. Wir tun in den nächsten Tagen aber einfach einmal so, als würde alles schon morgen passiert. Sonst wird’s wirklich viel zu kompliziert…