Fünfter und letzter Teil unseres EU-Vertrag Watch
Ein Kernidee des Reformvertrags (wie schon der „EU-Verfassung“) war es, eine auf 27 Mitglieder erweiterte Union handlungsfähig zu erhalten. Schließlich war vorauszusehen, dass Entscheidungen in einer solch unübersichtlichen Interessengemeinschaft nicht mehr derart konsensual getroffen werden könnten wie in einer EU der sechs, zwölf oder fünfzehn Mitglieder.
Die so genannte „Doppelte Mehrheit“ im Rat (also der Versammlung der Regierungschefs) soll ab 2014 sicherstellen, dass künftig auch im Falle von Meinungsverschiedenheiten wichtige Entscheidungen getroffen werden können. Doppelte Mehrheit heißt: 55 Prozent der Staaten, die zugleich 65 Prozent der Bevölkerung der EU stellen, müssen zustimmen. Das doppelte Mehrheitsprinzip tritt aufgrund eines entsprechenden polnischen Sonderwunsches allerdings erst am 1. November 2014 in Kraft, möglicherweise auch erst – sollten sich die Staatschefs auf eine Fortgeltung der alten Regeln verständigen – am 31. März 2017.
In Kraft bleibt auch die so genannte Ionina-Klausel. Nach ihr kann jeder Mitgliedsstaat gegen eine Mehrheitsentscheidung ein Veto einlegen. Dies hat allerdings nur aufschiebende Wirkung. Die Angelegenheit muss noch einmal neu verhandelt werden – und wird anschließend notfalls auch gegen den Widerstand der Veto-Nation verabschiedet.
Im Grundsatz ist das Doppelte-Mehrheit-Verfahren ein Zuwachs an Effektivität und an supranationaler Demokratie. Dieser wird allerdings mit einem Geltungsschwund nationaler Demokratie erkauft. Staaten sollen innerhalb des EU-Verbundes, kurz gesagt, künftig wie Bürger behandelt werden. Damit schwinden zugleich die Einflussmöglichkeiten von Staatsbürgern auf die Politik insgesamt.
Denn Mehrheitsentscheidungen im Rat bedeuten eben auch, dass fremde Regierungen Rechtsakte auch gegen den erklärten Willen von nationalen Parlamenten beschließen können. Zählt etwa Deutschland zur unterlegenen Minderheit, muss es Entscheidungen umsetzen, die unter Umständen weder das Volk noch die Volksvertreter noch die Regierung gewollt haben.
Zwar können vier Staaten zusammen eine Sperrminorität bilden und Beschlüsse des Rates blockieren. Doch dies könnte vor allem bedeuten, dass die drei großen EU-Staaten Deutschland, Frankreich und England es alleine nicht mehr schaffen, Entwicklungen aufzuhalten. Eine solche Machtverschiebung vom Souverän auf eine supranationale Staatenkammer dürfte historisch einzigartig sein.
Außerdem gibt es noch eine inhaltliche Qualitätsänderung. Bisher regelt das mit qualifizierter Mehrheit zustande gekommene Gemeinschaftsrecht vor allem Leistungen, also Agrarbeihilfen und Struktursubventionen.
Nun aber werden auch Rechtseingriffe in klassische Souveränitätsbereiche (Justiz/Innen) durch europäische Mehrheitsentscheidungen möglich. Das ist ein fundamentaler Unterschied.
Im Gegenzug bekommt das Europaparlament deutlich mehr Rechte. Es kann künftig in 85 (früher 45) Politikbereichen mitentscheiden (früher wurde es hier nur angehört), unter anderem im wichtigen Gebiet der Justiz- und Innenpolitik. In 112 Bereichen kann der Rat allerdings weiterhin ohne das Parlament entscheiden.
Eine weitere Möglichkeit für die Mitgliedsstaaten, „Mehrheitsdiktate“ aus Brüssel aufzuhalten, ist künftig die so genannte Subsidiaritätsklage. Subsidiarität bedeutet soviel wie „Vorrecht der kleineren Gemeinschaft“. Die grundlegende Idee stammt von dem Jesuit und Gesellschaftswissenschaftler Oswald von Nell-Breuning. Subsidiär heißt eigentlich „hilfsweise“. Nur dort, so will es das gleichnamige Prinzip, wo die kleinere Gemeinschaft überfordert ist und ihre Mittel und Regelungsmacht nicht ausreicht, nur dort soll die nächsthöhere Instanz subsidiär, also hilfsweisem eingreifen. Was von den betroffenen Menschen allerdings selbst beschlossen und umgesetzt werden kann, muss auch von ihnen selbst beschlossen und umgesetzt werden. Alles andere würde die friedensstiftende Wirkung der Demokratie gefährden.
Wenn nun genügend nationales Parlament glaubt, dass die Kommission, der Rat oder das Europaparlament mit einem ihrer Gesetzgebungsvorhaben gegen das Subsidiaritätsprinzip verstößt, können sie Brüssel die rote Karte zeigen. Das Subsidiaritätsprinzip ist eine Festlegung aus dem Maastricht-Vertrag. Es besagt, dass die EU nur das regeln soll, was tatsächlich am besten europaweit geregelt muss. Entscheidungen unterhalb dieser Schwelle sollen die Mitgliedsstaaten selber treffen.
In der Praxis nimmt kaum ein Brüsseler Beamter das Subsidiaritätprinzip mehr ernst. „Darüber lachen wir doch nur noch“, sagt eine deutsche Mitarbeiterin in der EU-Kommission.
Der Lissabon-Vertrag räumt den nationalen Parlamenten nun erstmals eine Veto-Möglichkeit ein. Allerdings ist sie derart begrenzt, dass sie in der Praxis kaum geeignet sein dürfte, Kompetenzanmaßungen durch die EU-Organe zu verhindern.
Mindestens ein Drittel aller Volksvertretungen muss innerhalb einer achtwöchigen Frist eine begründete Stellungnahme nach Brüssel schicken, samt einer Begründung, warum ein Vorhaben das Subsidiaritätsprinzip verletzt (bei Gesetzesvorhaben in der Justiz- und Innenpolitik genügt ein Viertel der Parlamente). Diese Frist dürfte schon die üblichen parlamentarischen Abläufe eines Mitgliedslandes sprengen. Dass sich neun Parlamente innerhalb dieser Zeit zu einer Beschwerde beschließen und formieren, erscheint so wahrscheinlich wie, sagen wir, eine gemeinsame Mondlandung von Finnen und Bulgaren bis zum nächsten EU-Gipfel.
Und selbst wenn es eine Drittel-Rebellion geben sollte: Ihr Veto hätte lediglich die Folge, dass das Vorhaben noch einmal überprüft würde – von dem Organ wohlgemerkt, welches das Projekt auf den Weg gebracht hat, also der Kommission, dem Rat oder dem Europaparlament.
Nur wenn der Rat oder das Parlament auf die Beschwerde hin mit einer Mehrheit von 55 Prozent beschließen würden, dass das beanstandete Gesetz tatsächlich gegen den Subsidiaritätsgrundsatz verstößt, würde es gestoppt. Dies aber ist hochgradig unwahrscheinlich, denn eben diese Mehrheit hatte ja zuvor schon für die Entscheidung gestimmt. Den Mitgliedstaaten bliebe dann nur noch der Weg zum Europäischen Gerichtshof (EuGH), um seinen Standpunkt rechtlich prüfen zu lassen.
Auf das Europaparlament als Hüter von Einzelstaats-Interessen aber sollte sich indes kein nationaler Politiker verlassen. Zum einen sind die dortigen Abgeordneten in europaweite Bündelparteien eingebunden, was ihnen ein Vertreter spezifisch – etwa deutscher – Interessen schwer macht. Zum anderen herrscht im Europaparlament eine faktische Große Koalition aus Konservativen und Sozialisten. Vor allem aber verstehen sich die maßgeblichen Politiker als europäische Avantgarde mit der Mission, kleinkarierte nationale Denkarten zu überwinden. Zudem ist das EP nicht gleich gewählt. Ein Vertreter aus Malta oder Luxemburg hat unproportional mehr Stimmgewicht als einer aus Deutschland oder Frankreich. Schließlich kann von einer öffentlichen Debatte über Entscheidungen in Rat, Kommission und Parlament keine Rede sein. Weil es schlicht keine europäische Öffentlichkeit gibt.
Ein einflussreicher deutscher EP-Abgeordneter reagierte, auf die Möglichkeit des Vetos durch nationale Parlamente angesprochen, mit den Worten: „Das wird kein Problem.“ Der Begriff der Subsidiarität sei schließlich dehnbar. Im Zweifel, so der Abgeordnete, werde das Europaparlament den Einzelstaate schon erklären können, warum die Angelegenheit in Brüssel geregelt werden müsse.
Mit anderen Worten: selbst bei offenkundigen Verstößen gegen das Subsidiaritätsprinzip bleiben die nationalen Parlamente letztlich machtlos. Was sie gewinnen, ist immerhin die Möglichkeit, den europäischen Institutionen dann und wann einen Schuss vor den Bug zu versetzen. Das könnte – im günstigen Fall – zu mehr politischer Sensibilität aufgrund des Bewusstseins führen, dass nicht alles, was in Brüssel verhandelt wird, unter der Aufmerksamkeitsschwelle der nationalen Parlamente hindurchrutscht.
Hessens Ministerpräsident Roland Koch gab sich unlängst bei einem Besuch in Brüssel nichtsdestotrotz kämpferisch:
„Bei Projekte, bei denen wir wirklich einen Verstoß gegen die Subsidiarität sehen, können Sie davon ausgehen, dass wir sehr wohl auf scharf schalten können und Netzwerke aktivieren. In Wahrheit beträgt die Anlaufzeit ja nicht acht Wochen, sondern Monate. Man beobachtet das, was in Brüssel passiert, ja schon im Entstehen. An der Frist scheitert ein politischer Wille selten.“
Allerdings, die Hürden für eine Subsidiaritätsklage liegen auch für einen energischen Landesfürsten hoch. Zunächst müssten entweder im Bundesrat oder im Bundestag 25 Prozent der Vertreter für eine Beschwerde stimmen. Als nächstes müssten acht Verbündete Staaten im Rest von Europa für die Klage-Allianz gewonnen werden. Wie soll ein Bundesland, das über keine außenpolitischen Kapazitäten verfügt (abgesehen vom Personal in den Brüsseler Vertretungen), dies bewerkstelligen?
Unbenommen bleibt den nationalen Parlamenten freilich die Möglichkeit, die Europapolitik ihrer Regierungen zu kontrollieren, etwa indem sie ihren Ministern klare Grenzen für Verhandlungen im Rat setzen. Daran hat es der Bundestag allerdings schon in der Vergangenheit fehlen lassen. Viele Bundestagsmitglieder räumen unumwunden ein, es sei gar nicht zu schaffen, neben dem innen- und außenpolitischen Pensum auch noch Brüsseler Dossiers zu verfolgen.
„Der Bundestag hat die Entwicklung der letzten fünfzehn Jahren in der EU schlicht verschlafen“, sagt ein langjähriger deutscher Beobachter in Brüssel. Immerhin dieser Aufmerksamkeits-Level könnte sich durch die Möglichkeit der Anti-Brüssel-Klage erhöhen.
Im Ergebnis enthält der Lissabon-Vertrag einige Hebel zur Stärkung der horizontalen Demokratie in Europa. Die Mitgliedstaaten müssten sie aber lernen zu nutzen – unter Aufbietung erheblicher parlamentarischer Energien. Nutzen sie diese Rechte, dann wird Lissabon-Vertrags sein Hauptziel allerdings nicht erreichen: effizienter, schneller und schlagkräftiger zu werden. Im Gegenteil. Dann droht die Lähmung der Union durch Koalitionen der Unwilligen.
Generell ist zu befürchten, dass durch den Lissabon-Vertrag Entscheidungen der EU weiter an demokratischer Legimität verlieren werden, weil er den Zurechnungszusammenhang zwischen politischer Entscheidung und Bürgerwille überstrapaziert. Der lautet:
Je tiefer der Eingriff in die Rechtsphäre des Bürgers ist, desto klarer müssen die Verantwortlichen für diesen Eingriff erkennbar sein. Denn nur wenn der Bürger die Möglichkeit hat, Politiker für ihr Handeln zur Rechenschaft zu ziehen, wird er dieses Handeln als legitim empfinden. Denn nur dann traut er den Politikern zu, verantwortsbewusst mit ihrer Macht umzugehen.