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Antwerpener Moment

 

Die unsichtbaren Regisseure von Samstag Nachmittagen setzen bisweilen unerhört gute Szenen. In einem Café am mittelalterlichen Marktplatz von Antwerpen strecken wir einen Moment lang die Beine aus und versuchen zu rekapitulieren, wann dieses so nordisch wirkende Städtchen eigentlich katholisch wurde.

Klar – die spanischen Habsburger waren es, die zu Zeiten ihres Imperiums im 16. Jahrhunderten die protestantischen Erhebungen in ihrer damals spanisch-niederländischen Provinz niederschlugen.

Während wir uns noch über genaue Jahreszahlen streiten, trippeln, wie aus dem Nichts, zwei seltsame Männer an unserem Tisch vorbei.

Der eine trägt einen Plastik-Ritterhelm auf dem Kopf und einen Besenstiel in der Hand. Von seiner Hüfte baumeln Zotteln mit angeklebten Pferdehufen herunter. Staunend zieht ein Teleskop aus seinem Umhang, richtet es auf die imposanten Fassaden der Antwerpener Gildehäuser und hält im nächsten Moment seinen dicklichen Begleiter zur Flucht an. Sancho Pansa gibt seinen Stoff-Eselsbeinen die Sporen – und beide galoppieren davon.

Wir stutzen. Irgendwie war das gerade eine geniale Performance.

Aber warum?

Nun ja, wie breitete sich noch die Neuzeit über Europa aus? Von Norden her erfasste zu Zeiten des Don-Quijote-Schöpfers Cervantes die Reformation den Kontinent. Sie zwang, in einer Ära tiefer Verunsicherung, als Handelssegler (viele von ihnen von Antwerpen aus) in neue Welten aufbrachen, den Menschen zum Nachdenken über sein Selbst.

Cervantes schickte zur selben Zeit seinen Quijote von Süden aus ebenfalls auf eine Existenz-Entdeckungsreise. Der Ritter von der traurigen Gestalt, er wandelt sich im Roman durch seine Irrungen vom Narren zum Weisen, wird schließlich zur Gestalt seiner Erfahrungen. Zum ersten Mal in der Literaturgeschichte schaffte Cervantes so eine Figur, die nicht der Autor, sondern die den Autoren beherrschte.

Hier in Antwerpen, wo germanischer Protestantismus und spanische Romantik aufeinander prallten, einen Wiedergänger dieses Apostels über den Marktplatz hoppeln zu lassen, staunend inmitten chinesischer Touristen und handyflötender Belgier, das ist schon eine Idee von beinah kosmischer Qualität.

Wir rühren, seltsam berührt, in unserem Milchkaffee. Jungejunge. So viel europäische Volksseele war selten in fünf Sekunden.