Der Präsident der EU-Kommission, José Manuel Barroso, äußert sich im ZEIT-Interview zur Kritik am Reformvertrag, zur Rolle der nationalen Parlamenten und zur Schlagkraft Europas
DIE ZEIT: Herr Barroso, die deutschen Verfassungsrichter in Karlsruhe haben bei einer Anhörung in der vergangenen Woche einige fundamentale Fragen zum Lissabon-Vertrag und zur Architektur der EU gestellt.
Eine Hauptsorge scheint ihnen die Frage zu sein, ob der Machtzuwachs, den die Brüsseler Institutionen durch den Reformvertrag erhalten, durch einen entsprechenden Zuwachs an demokratischer Kontrolle ausbalanciert wird.
Barroso: Lassen Sie mich zunächst einmal klarstellen, dass ich mich nicht in die Entscheidungsfindung des Bundesverfassungsgerichts einmischen möchte. Es handelt sich um einen deutschen Prozess, und die Kommission respektiert die Unabhängigkeit der Mitgliedsstaaten bei der Ratifizierung des Lissabon-Vertrages. Aber ich kann Ihnen natürlich sagen, was ich über die Inhalte des Vertrages denke. Und ich denke zunächst einmal, dass er das demokratische Element der EU enorm stärkt. Erstens dadurch, dass das Europäische Parlament mehr Macht und Kompetenzen erhält. Zweitens dadurch, dass die nationalen Parlamente Prüfungs- und Einspruchsmöglichkeiten bekommen, die sie heute nicht besitzen. Sie können künftig Entscheidungen der Kommission auf ihre Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsgedanken hin überprüfen lassen. Außerdem werden die Kompetenzen der EU klar geregelt. Das war übrigens immer ein besonderes Anliegen Deutschlands.
Kritiker sagen, dieser Demokratiezuwachs sei nicht ausreichend. Was etwa die “Gelbe Karte” betrifft, die Sie ansprechen, so müssen die nationalen Parlamente innerhalb einer achtwöchigen Frist mindestens ein Viertel ihrer Mitglieder dazu bewegen, einen begründeten Einspruch gegen Vorschläge aus Brüssel einzulegen. Einige Parlamentarier sagen, dies bewerkstelligen zu wollen sei in der Praxis völlig illusorisch.
Zur Grundsatzfrage: Sehen Sie, die EU hat nun mal eine doppelte Legitimität. Sie ist eine Union der Staaten und eine Union der Bürger. Die Bürgerbeteiligung ist in erster Linie durch das Europäische Parlament sichergestellt, das direkt gewählt wird. Zur praktischen Frage: das ist eine Frage der Organisation.
Bleiben wir kurz bei den Kontrollmöglichkeiten für die nationalen Parlamente. Wie steht es mit der Acht-Wochen-Frist? Ist die nicht zu kurz bemessen?
Vergleichen Sie die neue Prüfungs- und Einspruchsmöglichkeit mit der aktuellen Situation. Auch die schärfsten Kritiker müssen doch, vorausgesetzt sie verfügen über ein Minimum intellektueller Ehrlichkeit, eingestehen, dass die Mitspracherechte beträchtlich zunehmen. Wenn die nationalen Parlamente glauben, die Frist sei zu kurz, dann sollten sie offen gesagt vielleicht darüber nachdenken, ihre Abläufe entsprechend anzupassen. Vielleicht gibt es für sie in der Tat noch Möglichkeiten, die Überprüfung des Regierungshandelns zu verbessern. Immerhin gibt es heute schon Länder, in denen die parlamentarische Kontrolle der Regierung bei Europaangelegenheiten sehr, sehr strikt ist – in Dänemark oder den Niederlanden zum Beispiel.
Aber wollen Sie das den Parlamenten tatsächlich empfehlen? Denn angenommen, sie machen ihre Hausaufgaben und lernen, ihre Regierungen bei Brüsseler Räten in Zaum zu halten, wie soll das dann zu einer größeren Effizienz der EU führen?
Da unterstellen Sie, dass die nationalen Parlamente ihre Mitsprache regelmäßig für ein “Nein” nutzen würden. Man kann aber auch gut das Gegenteil annehmen. Die nationalen Parlamente könnten ihre Regierung ja auch anweisen, noch kooperativer zu sein, noch stärker für das europäische Gemeinwohl zu arbeiten. Die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise zum Beispiel zeigt doch in aller Deutlichkeit, dass wir europäische Antworten brauchen. Also: Die Parlamente kommen in eine Situation, in der sie von der Europäischen Union entschlosseneres Handeln verlangen können. Fragen Sie doch die Leute! Die meisten wollen, dass die EU schlagkräftiger auftritt, gerade nach außen hin.
Kommen wir zur Perspektive der Beschwerdeführer in Karlsruhe zurück, die sich um die demokratische Kontrolle der EU sorgen. Sie weisen darauf hin, dass selbst wenn es gelänge, gegen Brüsseler Rechtsakte Einspruch einzulegen, letztendlich der Europäische Gerichtshof (EuGH) über die Angelegenheit befindet. Ist es nicht tatsächlich so, dass der EuGH in den meisten Fällen zugunsten der Kommission, zugunsten tieferer Integration urteilt?
Das ist eine gute Frage für Kommentatoren und Geschichtsschreiber. Zunächst einmal: Ich respektiere das Gericht, unabhängig von seinen Entscheidungen. Denn manchmal gewinnt, manchmal verliert die Kommission ihre Fälle. Wenn wir öfter gewinnen als verlieren, macht mich das natürlich stolz, denn es zeigt, dass wir offenbar kompetent sind. Aber: Das Gericht ist vollständig unabhängig von der Kommission. Was freilich stimmt ist, dass der EuGH in der Geschichte der EU traditionell eher zugunsten der europäischen Integration geurteilt hat. Weil die Verträge die europäische Integration auf- und ausgebaut haben. Weil er die Rechte der Bürger durchsetzt.
Werfen wir einen Blick auf die Rechtsgrundlagen, auf die der EuGH seine Urteile stützt. Nehmen wir die Europäische Grundrechtecharta. Die Kritiker in Karlsruhe sagen, dass deren Schutzniveau hinter dem des deutschen Grundgesetzes zurückbleibt.
Die Europäische Grundrechtecharta ist in der Tat eine der wichtigsten Errungenschaften der Union und des Lissabon-Vertrages. Denn Grundrechte gehen jeder staatlicher Gewalt vor, sei sie national oder supranational. Falls die deutsche Verfassung darüber hinaus reichende Bürgerrechtsgarantien enthält, kann ich Ihnen versichern, dass der Lissabon-Vertrag diese deutschen Garantien in keiner Weise reduziert.
Aber gemäß dem Lissabon-Vertrag geht das Unionrecht dem nationalen Recht vor.
Was die Grundrechte angeht, so lassen diese sich niemals restriktiv auslegen. Die Rechte, welche das Grundgesetz den deutschen Bürger gewährt, werden nicht reduziert. Im Gegenteil: Die Rechtssprechung des EuGH hat bis jetzt die Bürgerrechte immer so ausgelegt, dass ihr Schutzbereich vergrößert wurde.
Aber für EU-Rechtsakte ist künftig nicht mehr das Bundesverfassungsgericht die letztmögliche Instanz, sondern der EuGH.
Die Europäische Grundrechtecharta, die mit dem Vertrag von Lissabon rechtskräftig wird, erweitert die Bürgerrechte, aber schränkt sie nicht ein.
Darf ich Ihnen ein Beispiel nennen, wo dies nicht der Fall zu sein scheint, nämlich bei der Pressefreiheit? In Artikel 11 Absatz 2 der EU-Grundrechtecharta heißt es: „Die Freiheit und Pluralität der Medien werden geachtet.“ Zum Vergleich Artikel 5 des Grundgesetzes: “Die Pressefreiheit wird gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt. Ist das Schutzniveau der deutschen Formulierung nicht deutlich höher?
Sehen Sie, das mag eine juristisch interessante Debatte sein. Man kann sich darüber streiten, welche die bessere Formulierung ist. Aber die ratio legis, der Zweck der Vorschrift, ist doch offensichtlich. Also, der Lissabon-Vertrag leistet allen erforderlichen Schutz.
Andererseits enthält der Lissabon-Vertrag Versprechen, die bei ehrlicher Betrachtung kein Staat halten kann. In Artikel 15 der Grundrechtecharta heißt es zum Beispiel. „Jede Person hat das Recht, zu arbeiten und einen fei gewählten (…) Beruf auszuüben.“ So etwas verspricht das deutsche Grundgesetz aus guten Gründen nicht. Glauben Sie, es trägt zur Glaubwürdigkeit des Lissabon-Vertrags bei, wenn er den Menschen einen Arbeitsplatzanspruch vorgaukelt?
Natürlich gibt es über diese Frage unterschiedlichen Meinungen. Ich bin selbst Verfassungsrechtler, und ich kenne diese Debatte, auch aus Portugal. Natürlich ist dieser Artikel eine, wie man sagt, programmatische Norm. Das heißt natürlich, dass wir diese Rechte nicht komplett garantieren können, wohl aber optimieren wollen. Aber wissen Sie, ich will jetzt nicht zu tief in diese technische Debatte einsteigen. Die entscheidende politische Frage lautet doch, ob die Europäische Grundrechtecharta die Rechte der Bürger erweitert oder einschränkt. Und da bleibe ich dabei: Sie erweitert sie. Übrigens ist diese Charta im Konvent unter dem Vorsitz von Roman Herzog entstanden. Wenn es ein Land gab, das das intellektuelle, rechtliche und politische Konzept des Lissabon-Vertrages maßgeblich mitgeformt hat, dann war das Deutschland.
Kommen wir zum zweiten Argument, warum die Demokratie auf EU-Ebene gestärkt wird. Das Europäische Parlament (EP) erhält wesentlich mehr Mitbestimmungsrechte.
Richtig.
Bloß, haben wir es bei diesem Parlament nicht mit dem strukturellen Problem der europäischen Bündelparteien zu tun? Wer zum Beispiel einen deutschen liberalen Abgeordneten wählt, weiß nicht, ob dieser auch klassisch deutsche liberale Positionen im EP vertreten wird – schließlich muss dieser Abgeordnete seine Position in Einklang bringen mit der Haltung und den Interessen der gesamteuropäischen Liberalenfraktion. Das hat zum Beispiel dazu geführt, dass ein Großteil der deutschen liberalen Abgeordneten der Einführung des biometrischen Passes zugestimmt haben. Dies hätten sie sich im Bundestag nie erlauben können.
Dieses Problem ist ein generelles Demokratieproblem. Es passiert immer wieder, dass sich gewählte Vertreter nicht exakt an das halten, was Sie Ihnen versprochen haben. In diesem Fall können Sie sie bei der nächsten Wahl abwählen.
Ich kann aber nicht die Abgeordneten aus Griechenland, Spanien oder Italien abwählen.
Nein, aber Ihre Abgeordneten.
Aber wenn die doch in der Fraktion überstimmt werden von Abgeordneten, auf deren Wahl ich keinen Einfluss habe…
…aber die Mitglieder des EP haben doch ein freies Mandat. Was Sie beschreiben, ist doch kein spezifisches Problem Europas. Die Frage stellt sich innerstaatlich genau so. Außerdem, Deutschland ist nicht allein der EU, deswegen müssen eben auch die Stimmen die Stimmen der anderen berücksichtigt werden. Aber genau das ist doch das Großartige an dieser Union.
Andererseits, Subsidiarität bedeutet auch, dass je tiefer Gesetze in die Rechte der Bürger eingreifen, desto klarer die Bürger die Verantwortlichen für diese Eingriffe erkennen können müssen.
Hier greift die klarere Kompetenzabgrenzung ein. Außerdem muss sich die Gesetzgebung aus Brüssel nicht nur an der Grundrechtecharta messen lassen, sondern auch an der Europäischen Menschenrechtskonvention. Der Bürger kann sich also nicht nur an seine nationalen Gerichte halten, sondern auch an die Gerichtshöfe in Luxemburg und Straßburg.
Aber wie steht es um die öffentliche Diskussion von Bürgerrechtsfragen? In Deutschland sind um individuelle Freiheiten, Datenschutz und Terrorbekämpfung traditionell sehr streitige Debatten geführt worden. Wenn diese Themen aber künftig europapolitisch entschieden werden, wo kann der Bürger dann diesen Debatten folgen? Eine „europäische Öffentlichkeit“ gibt es schlicht nicht.
Ich glaube, es ist schon ein Fortschritt, dass wir – abgesehen von den Diskursen innerhalb der Nationen – Zugang und Austausch mit anderen Öffentlichkeiten haben. Natürlich will ich nicht so tun als gebe es einen europäischen Demos im Sinne der klassischen Staatslehre. Aber wie ist die Lage heute im Vergleich von vor zwanzig Jahren? Es gibt doch mittlerweile öffentliche europäische Debatten. Die Frage zum Beispiel, ob eine junge Frau in Italien Sterbehilfe erhalten durfte, sorgte überall in Europa für Schlagzeilen. Natürlich kenne ich die Schwierigkeiten einer supranationalen Aufmerksamkeit, aber die Wahrheit ist doch, dass diese Sphäre gerade entsteht.
Sie glauben also, dass Entscheidungen aus Brüssel die Bürger in Zukunft weniger überraschen?
Entscheidungen aus Brüssel, wie Sie sagen, werden in den meisten Fällen von Vertretern aus den Nationalstaaten getroffen. Die Kommission macht Vorschläge, aber die Entscheidungen fallen im Rat und im Parlament. Wenn es also manchmal ein Demokratiedefizit gibt, dann muss man sich zuerst fragen, warum sich die nationale Ebene nicht darum kümmert. Man muss schon auseinander halten, welche Vorschläge und Ideen in Brüssel entstehen, und welche Entscheidungen letztlich die Mitgliedsstaaten treffen.
Einige Fragen an Barroso im Videointerview: