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Die Entdeckung Europas

 

Das Lissabon-Urteil zwingt Deutschland zu einer ehrlichen Europapolitik – endlich

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Lissabon-Vertrag vom vergangenen Dienstag markiert möglicher Weise eine Zäsur in der Entwicklung der Europäischen Union. Es könnte dazu führten, dass Deutschland schon bald sein wahres europapolitisches Gesicht zeigt. Denn die Bundesrepublik ist jetzt gezwungen, aus dem Schneckenhaus der Nachkriegs-Europapolitik herauszutreten.

Die Folge könnte entweder sein, dass der bisher größte Motor Europas zu Europas größter Bremse wird. Oder, falls es besser ausgeht, derjenige Staat wird, der den Kontinent endlich zu mehr Ehrlichkeit zwingt im Umgang mit dem Werkzeug EU.

Denn das Verfassungsgericht hat, wenn man so will, den Bundestag aus seinem jahrzehntelangen EU-Tiefschlaf wachgerüttelt. Was sein Urteil verlangt, ist de facto ein Parlamentsvorbehalt gegenüber Entscheidungen, die Vertreter der Bundesregierung in Brüssel treffen. Diese Mitwirkungspflicht könnte drastischere Auswirkungen haben, als alle, die sich über das Lissabon-Urteil bloß als Wegbereitung zu einem zweiten irischen Referendum freuen, bisher glauben.

Fünfzig Jahre lang haben die Berliner Abgeordneten im Wesentlichen drei Gründe gehindert, genauer auf das zu schauen, was im Brüsseler Ratsgebäude verbindlich für alle europäischen Staaten entschieden wird.

1. Desinteresse
2. Überlastung
3. Ein historisch begründeter permissiver Konsens gegenüber den meisten Maßnahmen, die die europäische Einigung voranbringen sollen. Schließlich hat Deutschland zwei Weltkriege angezettelt – und in der EU, so sehen es noch heute viele Politiker nicht nur der Kohl-Generation, die Chance zur Resozialisierung erhalten.

Desinteresse und Überlastung hat Karlsruhe dem Bundestag in Europa-Angelegenheiten nunmehr schlicht verboten. „Den deutschen Verfassungsorganen“, schreiben die Richter, „obliegt eine dauerhafte Integrationsverantwortung im Rahmen der Mitwirkung. Sie ist darauf gerichtet, bei der Übertragung von Hoheitsrechten und bei der Ausgestaltung der europäischen Entscheidungsverfahren dafür Sorge zu tragen, dass in einer Gesamtbetrachtung sowohl das politische System der Bundesrepublik Deutschland als auch das der Europäischen Union demokratischen Grundsätzen (…) entspricht.“ (Paragraph 245 des Urteils).

Und dann, der entscheidende Satz: Von Demokratie könne im Spannungsfeld zwischen nationalen und EU-Entscheidungen nur dann die Rede sein, „wenn der Deutsche Bundestag eigene Aufgaben und Befugnisse von substantiellem politischem Gewicht behält.“ (Das Europaparlament, so die Richter, sei unter anderem wegen des Nichtvorhandenseins eines europäischen Demos kein hinreichender Ersatz für die Aufsichtsfunktion nationaler Parlamente.) Diese Dauereinmischung ist, wenn die Erfinder von Lissabon ehrlich sind, das Gegenteil dessen, was sie mit dem Vertrag erreichen wollten. Und das ist gut so.

An dieser Frage zunächst, welche Aufgaben also der Bundestag für substantiell hält, wird sich entscheiden, wie sehr Deutschland in Zukunft die Europäische Integration auszubremsen vermögen könnte. Die CSU hat bereits gefordert, dies bei jeder Gelegenheit tun zu können. Sie verlangt, dass Bundestag und Bundesrat „bei der Nutzung aller bereits vorhandenen Kompetenzen durch die Bundesregierung im Brüsseler Rat“ zustimmen müssen.

Was das bedeuten könnte, zeigt das Beispiel Schweden, wo heute schon ein solch strenger Parlamentsvorbehalt gilt. So hat zum Beispiel ganz allein die Blockade des schwedische Parlamentes gegen sämtliche anderen 26 EU-Regierungen verhindert, dass es ein EU-einheitliches Scheidungsrecht gibt. Ein spezieller Ausschuss des Stockholmer Parlaments steht während der Ratssitzungen in ständigem Telefonkontakt mit seinen Ministern in Brüssel, notfalls die ganze Nacht hindurch. Stimmen sie nicht zu, darf die Regierung nicht zustimmen.

Will sich der deutsche Bundestag ein „Lissabon-Begleitgesetz“ mit solchen Befugnissen geben? Ausgeschlossen ist das nicht.

Aber auch wenn die Vorbehalte nicht ganz so streng ausfallen werden, Tatsache ist, dass die deutschen Abgeordneten zum ersten Mal gezwungen sein werden, ihren tatsächlichen europapolitischen Charakter zu erforschen und zu offenbaren. Sie, selbst die europafreundlichsten unter ihnen, werden dabei feststellen, dass es, sobald es um handfeste Interessen geht, nicht mehr ausreicht, Europa als größtes und erfolgreichstes Friedensprojekt aller Zeiten zu preisen und den Rest der Brüsseler Bürokratenschaft zu überlassen. Sie werden vielmehr feststellen, dass die EU keineswegs nur Gutes tut. Der permissive Konsens (oder auch: das freundliche Desinteresse) gegenüber der EU, der in der Nachnachkriegs-Politikergeneration ohnehin bröckelt, wird sich über kurz oder lang erledigen. Diese Ehrlichkeit kann nur förderlich sein.

Denn andererseits werden die deutschen Politiker, selbst die in der CSU, auch entdecken, dass sie Europa öfter und dringender brauchen, als sie bislang geglaubt haben. Weil sich vieles eben nicht mehr nur national regeln lässt, sondern supranational geregelt werden muss. Weil der Nationalstaat vielleicht noch immer die beste Karosserie für Demokratie ist – aber eben nicht mehr immer das beste Werkzeug für die großen Räder einer verzahnten Welt. Wenn sie dies in der konkreten Politik(mit)arbeit erfahren, werden sich hoffentlich mehr deutsche Politiker, statt in Sonntagsreden vergangenheitsgewandte EU-Lobpreisungen herunterzubeten, darauf konzentrieren, was dieser Staatenverbund für die Zukunft wert ist.

Die moderne Wahrheit der deutschen Europapolitik muss also nicht die Blockade sein. Sie kann, wenn auch mit zwei Generationen Verspätung, die Entdeckung Europas werden.