Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Tatohr

 

In der Diplomaten- und Journalistenszene gilt Brüssel als einer der brutalsten Auslandsposten überhaupt. Kaum eine Woche vergeht, in dem nicht Kollegen erzählen, einer von uns sei wieder auf dem Nachhauseweg zusammengeschlagen, an der Ampel ausgeraubt oder am hellichten Tage zuhause um den Familienschmuck erleichtert worden. Botschaftspersonal, qua Beruf um Sympathie für das Gastland bemüht, rät einem, des Nachts das EU-Viertel zu meiden. Der belgische Staat habe nicht genug Geld, ausreichend Streifenwagen zu entsenden, heißt es.

Erst kürzlich musste ich am frühen Abend mitansehen, wie ein jugendlicher Krimineller einer Dame auf dem gegenüberliegen U-Bahnsteig die Handtasche entriss. Die Frau erging sich, versteinert, in einem Schreianfall.

Immerhin scheint die belgische Kriminalpolizei in den feineren Wohnvierteln jetzt zu innovativen Ermittlungsmethoden zu greifen. Eine zypriotische Diplomatin erzählte mir, nachdem vergangene Woche bei ihr eingebrochen worden sei, hätten die Beamten die Wohnungstür nach Ohrabdrücken abgesucht. “Die Täter horchen erst einmal eine Weile, ob jemand zuhause ist”, erfuhr die Geschädigte. Als Ergebnis der Spurensicherung habe ihr der Polizist mitgeteilt, es handele sich um die Ohren von “Gipsies”. Er könne das erkennen, sagte er, er habe Erfahrung.

Ohne mich je intensiver mit Tatohr-Ermittlungen (angeblich sind Ohrabdrücke genauso individuell wie Fingerabdrücke) beschäftigt zu haben, würde ich behaupten, die Polizisten müssen noch andere Anhaltspunkte für ihre Vermutung gehabt habe.

Andererseits achte ich seitdem im internationalen Bekanntenkreis sehr genau auf womöglich bislang unentdeckte, verräterische Ohrbesonderheiten. Man lernt ja nie aus.