Drücken wir es ein wenig dramatisch aus: Heute, am 10. Dezember, erklären die Großmächte USA, EU und Russland offiziell ihr Scheitern bei dem Versuch, sich über die Zukunft einer winzigen Provinz im Südosten Europas zu einigen.
So jedenfalls wird sich der Abschlussbericht der „Troika“ über das Kosovo lesen, der heute in New York dem UN-Generalsekretär Ban Ki Moon vorgelegt wird. Serben und Kosovo-Albaner konnten sich unter der „Troika“-Führung auf keines der diskutierten Modelle einer Autonomie oder eines, wie es hieß, kontrollierten Unabhängigkeitsprozesses einigen. Nun dürfte es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis sich die Regierung in Pristina unkontrolliert vom serbischen Mutterstaat lossagt. Schon wird ein Berater des serbischen Ministerpräsidenten mit den Worten zitiert, „Krieg“ sei „ein rechtmäßiges Mittel“, um eine Separation zu verhindern.
Was heißt das nun weltpolitisch? Dreierlei.
Erstens: Amerika wird in den nächsten Wochen weiter sanften Druck auf die EU und die Nato ausüben, um die Unabhängigkeitsbestrebungen der Provinz politisch und militärisch abzufedern. Durch, zum einen, eine rasche Anerkennung des neuen Staates, und, zum anderen, durch ein entschlossenes Auftreten der gut 16 000 Nato-Soldaten, die im Konfliktfall Unruhen vermeiden helfen sollen. „Wir müssen jetzt den nächsten Schritt tun“, sagte US-Außenministerin Condoleezza Rice während eines Nato-Treffens am Freitag in Brüssel. „Es wird uns nicht helfen, Entscheidungen aufzuschieben, die getroffen werden müssen.“
Für Washington, kurz gesagt, ist die Kosovo-Frage vor allem eine Frage des Selbstbestimmungsrechts der Völker.
Zweitens: Russlands Präsident Wladimir Putin wird eine Loslösung des Kosovo und eine Anerkennung desselben durch die EU-Staaten als einen weiteren dreisten Angriff auf die Einflußsphäre des Moskauer Ex-Imperiums betrachten. Jedenfalls dürfte den „nächsten Schritt“ (Rice) innenpolitisch als eine solche Attacke verkaufen. Russland sieht sich schließlich historisch als Protektor Serbiens – und diesem Staat wird nun ein Teil seines Territoriums durch Sezession abgeknapst. Einen solchen Vorgang hat es in der jüngeren Geschichte Europas noch nicht gegeben. Putin würde einer Eigenständigkeit des Kosovo im UN-Sicherheitsrat niemals seinen Segen geben.
Für Moskau, kurz gesagt, ist die Kosovo-Frage also vor allem eine Frage verletzten politischen Stolzes.
Drittens: Europa hat gegenüber dem Balkan wenig Sinn für leidenschaftliche Gefühle á la Washington oder Moskau. Vielmehr ist die EU aufgrund ihrer geografischen Nähe als diplomatischer Praktiker gefragt. Niemand in Deutschland, Frankreich, Italien oder Griechenland kann ein Interesse daran haben, dass es zu einem neuen Konflikt im ehemaligen Jugoslawien kommt. Vielmehr schwebt dem Brüsseler Diplomatencorps langfristig vor, aus den Zankhähnen am Mittelmeer anständige europäische Marktteilnehmer zu machen. Deshalb bemühen sie sich derzeit nach Kräften, unter den 27 EU-Mitgliedländern eine einheitliche Position zum Kosovo zu finden. Heute treffen sich die Außenminister in Brüssel, um, wie man erwarten darf, diejenigen Länder zu massieren, die noch Skrupel haben, das Kosovo anzuerkennen. Vor allem Zypern, ist zu hören, gilt als unsicherer Kantonist. Die Insel fürchtet eine Präzedenzwirkung für ihren eigenen ungelösten Separatismuskonflikt (der türkische Teil der Insel ist international nicht anerkannt). Wie aus dem EU-Apparat zu hören ist, zeigen sich die Zyprioten bislang hart: „Das Argument, Europa müsse Einigkeit beweisen, interessiert die überhaupt nicht“, heißt es.
Für die EU, kurz gesagt, ist die Kosovo-Frage vor allem eine Frage politischer Einigkeit, Glaubwürdigkeit und Gestaltungsmacht.
Aber es ist für Europa auch eine Chance. Die nämlich, eine europäische Angelegenheit entschlossen als europäische Angelegenheit zu behandeln. Die Zeit von Moskauer-Washingtoner-Stellvertreterkonflikten in Osteuropa sollte schließlich ein für allemal vorbei sein. Das Kosovo ist, ob es uns gefällt oder nicht, de facto unser Protektorat.
Der britische Außenminister David Miliband hat es am Wochenende in der Herald Tribune auf den Punkt gebracht: „Es geht um Europas Hinterhof, also müssen Europas Nationen jetzt echte Führungsstärke beweisen. Wir wissen aus der Erfahrung der 90er Jahre, wohin es führen kann, wenn Europa die Hände in den Schoß legt.“
Für die Europäische Union ist die Kosovofrage damit eine enorme politische und praktische Bewährungsprobe. Zum einen muss Europa eine neuerliche Destabilisierung des Balkans verhindern – und beschleunigt gerade deswegen den Beitrittsprozess für Serbien und Bosnien. Zum anderen wird die Geschlossenheit der EU auf die Probe gestellt. Ursprünglich sollte das Kosovo nach dem Plan des Vermittlers Martti Ahtisaari durch eine neue UN-Resolution in eine »überwachte Unabhängigkeit« entlassen werden – und zwar unter Aufsicht einer EU-Mission und von Nato-Truppen. Dieser Fahrplan ist seit der russischen Blockade im UN-Sicherheitsrat hinfällig. Damit hängt der Erfolg der kosovarischen Unabhängigkeit entscheidend davon ab, ob und wie schnell die einzelnen EU-Mitgliedsländer den neuen Staat anerkennen. Prompt sind Risse in der EU aufgetaucht.
Spanien, Rumänien, Griechenland und vor allem Zypern, die selbst mit Minderheitenkonflikten oder Spaltungen zu kämpfen haben, fürchten einen »Nachahmereffekt« im eigenen Land. Zwar sieht es derzeit so aus, dass Russlands Strategie, die EU in der Kosovofrage zu spalten, nicht aufgeht. Aber in dem entscheidenden völkerrechtlichen Moment nach einer Unabhängigkeitserklärung des Kosovos wird es viel diplomatische Energie kosten, die EU als geschlossenen Akteur erscheinen zu lassen. Diese Einheit ist auch Voraussetzung für die EU-Mission, die nun ohne Segen des UN-Sicherheitsrats ins Kosovo einrücken soll, um dort den Staatsaufbau fortzusetzen.Schon seit einem Jahr bereitet der Europäische Rat eine zivile Mission vor, um im Kosovo den Aufbau von Polizei und Justiz voranzutreiben. Diese Mission ist nach Auskunft von EU-Diplomaten mittlerweile einsatzbereit. Etwa 1800 zivile Beamte, zum großen Teil Polizisten, aber auch Richter, Staatsanwälte und Zöllner sollen das Land von der derzeitigen Übergangsverwaltung durch die UN hin zu einem eigenständig funktionierenden Staat begleiten. Es ist die bislang größte Auslandsmission der EU. Deutschland wird sich dem Vernehmen nach mit etwa 200 Beamten beteiligen. EU-Helfer, heißt es in Brüssel, könnten sich »sehr schnell« auf den Weg machen, falls das Kosovo überraschend die Unabhängigkeit ausruft. Innerhalb von 120 Tagen könne die gesamte Mission im Kosovo die Arbeit aufnehmen.
Dient diese Geburtshilfe dazu, aus dem Kosovo eines Tages ein Mitglied der EU zu machen?
Zweierlei scheint Brüssel undenkbar: ein solches Sorgenkind vor der Haustür der Europäischen Union sich selbst zu überlassen. Und, noch wichtiger, es langfristig nicht ins Haus Europa zu lassen. Die EU gebe dem Kosovo aus Eigeninteresse Hilfe zur Selbsthilfe, betonen die Architekten der EU-Mission, allein schon, um Kriminalität und Flüchtlingsströme einzudämmen. Zum ersten Mal wird damit sichtbar eine Grundphilosophie der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) ins Werk gesetzt, nämlich Konfliktverhütung an den Rändern der Gemeinschaft zu betreiben.
Europa übernimmt von der UN ein Protektorat. Wie lange es dauern mag, aus ihm ein Mitglied des europäischen Clubs zu machen – darauf will in Brüssel keiner Wetten abschließen. Wohl aber, glauben EU-Diplomaten, sei das Balkanproblem nur zu lösen, wenn alle Länder des ehemaligen Jugoslawiens unter einen neuen Schirm gebracht würden – eben den der europäischen Integration. Schon heute gelten Albanien, Makedonien und Kroatien als Kandidaten sowohl für eine Mitgliedschaft in der EU wie auch der Nato.
Derlei Ambitionen sind nicht nur ein gewaltiger Kraftakt für eine ohnehin erweiterungsmüde Union. Sie sind auch eine Provokation für den verstimmten Nachbarn Russland. Aus Moskaus Sicht ist das Engagement der EU auf dem Balkan ein nassforsches Vordringen in traditionell russische Einflusszonen. Gut möglich also, dass sich im Kosovo auch ein frozen conflict zwischen Europa und Russland kristallisiert.