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Selbstentmachtung der Nationen?

 

tropfen-eu-artikel-210.jpgTeil II des Lissabon Watch

Ein wichtiges Ziel des Lissabon-Vertrags war es, die Kompetenzen zwischen der EU und den Mitgliedsländern klarer zu regeln. Das ist nicht gelungen. Stattdessen bekommt die EU die Möglichkeit, immer mehr Politikbereiche an sich zu ziehen.

Die Gesetzgebungsverteilung zwischen Mitgliedsländern und EU lässt sich in drei Bereiche einteilen. Da ist einmal das, was die EU ausdrücklich regeln darf („Ausschließliche Gesetzgebung“). Zum Zweiten das, was die EU regeln kann („Geteilte Gesetzgebung“). Und schließlich das, was die EU nicht darf, die ureigenen nationalen Bereiche (bisher beispielsweise die Steuer- und Sozialpolitik).

Besonders wichtig sind im Lissabon-Vertrag die Rechtssetzungsregelungen innerhalb der so genannten „Geteilten Kompetenzen“. Sie sehen vor, dass die einzelnen Mitgliedsstaaten nur noch dann tätig werden können, wenn und soweit nicht bereits die EU tätig geworden ist.

Übertragen die Vertrage der Union für einen bestimmten Bereich eine mit den Mitgliedstaaten geteilte Zuständigkeit, so können die Union und die Mitgliedstaaten in diesem Bereich gesetzgeberisch tätig werden und verbindliche Rechtsakte erlassen. Die Mitgliedstaaten nehmen ihre Zuständigkeit wahr, sofern und soweit die Union ihre Zuständigkeit nicht ausgeübt hat.
(Art. 2 Abs.2 AEUV, Hervorhebung JB)

Diese Kompetenzzuweisung beschert der EU die Möglichkeit, ihre gesetzgeberische Prämisse beständig zu erweitern, denn sie ist eine, wenn man so möchte, Kompetenz qua Initiave.

Die „geteilte Kompetenz“ ist mit der der konkurrierenden Gesetzgebung in Deutschland, also der zwischen Bund und Ländern (Art. 72 Grundgesetz), vergleichbar. Laut Grundgesetz haben in vielen Feldern die Länder die Gesetzgebungskompetenz, solange und soweit der Bund nicht von ihr Gebrauch macht. Wie sich diese Regelung praktisch ausgewirkt hat, ist bekannt. Der Bund hat die allermeisten Kompetenzen an sich gezogen. Den Ländern blieb ein Minimum.

Tatsächlich ist die „geteilte Kompetenz“ nach dem Vorbild der konkurrierenden Gesetzgebung aus dem deutschen Grundgesetz in den Vertrag von Lissabon aufgenommen worden. „Das wurde entschieden, bevor wir in Deutschland gemerkt haben, dass wir eine Föderalismusreform brauchen“, sagt ein Abgesandter eines Bundeslandes in Brüssel. „Statt aus den deutschen Fehler zu lernen, hat Europa diesen deutschen Fehler in den Vertrag übernommen.“

Zwar listet der Lissabon-Vertrag ausdrücklich diejenigen Bereiche auf, in denen die „geteilte Kompetenz“ gelten soll. Eine rote Linie für die Brüsseler Gesetzgebung folgt daraus jedoch nicht. So kann die EU unter anderem das Ziel „wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt“ (Art. 4 Abs.2 Ziffer d AEUV) für sich reklamieren. Diese Formulierung ist derart generalklauselhaft, dass es schwerfällt, sich Sachverhalte vorzustellen, die mit ein bisschen politischer Phantasie nicht unter diese Definition fallen könnten.

Im Vertrag ausdrücklich aufgeführt sind des Weiteren der gemeinsame Binnenmarkt, die Sozialpolitik, „der gemeinsame Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“, Kohäsion, Landwirtschaft, Umwelt, Verbraucherschutz, Transeuropäische Netze, Verbraucherschutz, Energie, öffentliche Gesundheit.

Damit wird das Feld der EU-Zuständigkeiten, einfach ausgedrückt, so weit abgesteckt, dass es eigentlich keinen Lebensbereich mehr gibt, der nicht erfasst wäre.

Ein Beispiel: Mit dem Gemeinschaftsziel „Binnenmarkt“ ließe sich auch ein Europäisches Zentralabitur rechtfertigen. Es würde Familien innerhalb der EU schließlich den Wechsel des Arbeitsortes erleichtern, wenn ihre Kinder sich in jedem Land gleichermaßen auf ihre Abschlüsse vorbereiten könnten und ihre Qualifikationen von Schweden bis Sizilien gleichermaßen anerkannt würden. Dies würde die Mobilität und Arbeitskräfteaustausch innerhalb Europas, ergo den Binnenmarkt, fördern.

Natürlich ist bei all dem zu bedenken, dass die Mitgliedsstaaten die Herren des Verfahrens und der Verträge bleiben. Die EU ist kein gespenstischer Akteur. Sie ist immer der erklärte Gemeinschaftswille ihrer Mitglieder. Von einer Selbstentmachtung zu sprechen, wäre daher übertrieben. Treffender ist es, davon zu sprechen, dass die Mitgliedstaaten sich darauf geeignet haben, immer größere Teile ihrer Souveränität gemeinsam auzuüben.
Der Gruppendruck auf jede Nation aber, ihre Souveränitätsrechte immer großzügiger in den Brüsseler Pool zu werfen, zum Wohle des großen europäischen Ganzen, nimmt mit dem Lissabon-Vertrag eher zu als ab.

Denn anders als mit dem Vertrag ursprünglich beabsichtigt, ergibt sich dem Lissabon-Vertrag auch weiterhin ,„kein ganz klares Bild der Kompetenzen der Europäischen Union“, resümiert die EU-Expertin am Münchner Centrum für angewandte Politikforschung (CAP), Sarah Seeger.

Viele Brüsseler Kommissionsbeamte lächeln schon heute nur noch freundlich über das Subsidiaritätsprinzip. Es besagt, dass die EU nur das regeln soll, was sie besser regeln kann als die einzelnen Mitgliedsstaaten. Mit dem Lissabon-Vertrag verabschiedet sich die EU mehr oder weniger offen von diesem Leitgedanken.

Die EU ist ein historisches Experiment, und bisher ist es beeindruckend erfolgreich verlaufen. Doch es scheint, die Union wolle einfach nicht inne halten, um die Ergebnisse des bisherigen Verlaufs zu analysieren. Stattdessen fällt es ihr immer schwerer, das Experiment abzubrechen – oder zumindest eine Denkpause einzulegen.

„Ich vergleiche die Wirkung der EU immer mit einem Kiesel, den man ins Wasser wirft“, sagt ein Brüsseler Diplomat. „Die Kreise werden immer größer. Je mehr man anfängt zu regeln, desto mehr Regelungsbedarf gibt es.“