Mit krampfhafter Routine haben Brüssels Maschinisten in den vergangenen Wochen so getan, als hätte an diesem Freitag, dem 13. keine Schicksalfrage für Europa angestanden. Das Referendum, in dem die Iren nun tatsächlich den Lissabon-Vertrag (ehemals: „Europäische Verfassung“) abgelehnt haben, war schlicht kein Thema in offiziellen Runden. Ein Grund dafür war die Angst, dass sich eine Diskussion über einen Plan B entspinnen könnte. Dass es den womöglich geben könnte, wollte man den Iren natürlich nicht auf die Nase binden.
Ja, aber, gibt es sie denn nun, eine Alternative zum Lissabon-Vertrag?
Selbstverständlich. Europa wird nicht untergehen, nur weil die Iren heute „Nein“ gesagt haben. Es ist nicht einmal sicher, ob die Wirkung des „Nein“ in der Außenwelt der EU nicht verheerender ausfällt als der Schaden,den es im Inneren auslösen kann.
An Europa hat der Westen lange große Hoffnungen geknüpft. Nach Amerikas moralischen Entgleisungen in Guantánamo und Abu Ghraib und dem unmandatierten Irakkrieg glaubten viele, der alte Venus-Kontinent wäre mit seinem multilateralen Diplomatie- und Verflechtungsmodell geeigneter, die Probleme der Welt zu lösen. Geübt im Versöhnen, angelegt auf das Verständnis anderer Völker und Traditionen, schien die Kooperationspolitik Europas vielen als bestmögliche Managementmethode der Weltprobleme, vom Klimawandel bis zum Atomstreit mit Iran.
Welches Signal sendet das „Nein“ zu Lissabon jetzt in die Welt? Womöglich, dass die Europäer es leider immer noch am besten verstehen, sich in ihren eigenen Ansprüchen an Harmonisierung und Regelschaffung zu verheddern. Dass sie es nicht einmal hinbekommen, ihren eigenen Club anständig zu regieren. Wie, bitte, soll ein solch desperater Verein als Ordnungskraft in der Welt wirken? In Washington blicken heute schon viele Beobachter (auch Demokraten) mit befremdetem Kopfschütteln auf das seltsame, überkomplexe Gebilde EU.
Und wie schlimm ist es nun aus Brüsseler Sicht um Europa bestellt?
„Das ‚Nein‘ in Irland zum Europa-Vertrag von Lissabon erzeugt eine politische Krise in der Europäischen Union mit Folgewirkungen, die im Moment niemand voraussagen kann“, sagt Jo Leinen (SPD), Vorsitzender des Verfassungsausschusses im Europäischen Parlament.
Tatsächlich?
Zunächst einmal zum Technischen. Europa lässt sich auch ohne Lissabon-Vertrag weiter regieren. Die Befürchtung, mit der Erweiterung um 12 neue Mitglieder auf nunmehr 27 Staaten werde sich die EU selbst lähmen, wenn sie sich nicht effizientere Regeln gäbe, hat sich bislang nicht bestätigt.
Vier Jahre nach der großen Osterweiterungsrunde von 2004 zeigt sich: Europa funktioniert genauso gut oder schlecht wie zuvor. Und auch für die Zukunft hätte Lissabon vermutlich wenig an einer Grundregel der EU geändert. Sie lautet, dass Konsens das beständige Ziel bleibt. Die Doppelte Mehrheit, die wohl radikalste Neuerung von Lissabon, hätte an der ständigen Harmonie-Suche im Rat, da sind sich Regierungsvertreter einig, nichts geändert. Sie hätte die Entscheidungsfindung vermutlich beschleunigt, das immerhin.
Sicher, nach dem irischen Nein wird es eine Reihe von Reformen nicht geben, die wohl selbst die Iren begrüßt hätten. Die Verkleinerung der Kommission, zum Beispiel. Oder mehr Rechte für das EU-Parlament. Oder die Möglichkeit von Einzelstaaten, Verstöße gegen das Subsidiaritätsprinzip zu rügen.
Daneben aber enthielt der Lissabon-Vertrag eine Reihe von Neuregelungen, die unter Demokratiegesichtspunkten hochgradig zweifelhaft waren und denen eine erneute Diskussion gut tun könnte (siehe unsere Serie zum Lissabon-Vertrag in den vorherigen Blog-Einträgen). Jedenfalls muss sich Europa nach diesem schwarzen Freitag entscheiden, welches der folgenden Übel es wählen möchte.
Europa könnte die Diskussion um eine neue Bedienungsanleitung vorläufig beenden und auf Grundlage des Nizza-Vertrages so weitermachen wie bisher. Das hieße, sich langsamer zu integrieren und womöglich eine Denkpause darüber einzulegen, wohin es eigentlich steuern will.
Europa könnte eine neue Regierungskonferenz einberufen, um den Lissabon-Vertrag noch einmal zu überarbeiten. Das hieße, noch ein paar Jahre eine Funktionsdebatte zu führen, noch einmal alle Mitgliedsstaaten zur Ratifizierung zu bitten und die Bürger mit technischer Selbstbezogenheit zu frustrieren, statt Politik zu machen. Also keine ernsthafte Option.
Europa könnte erst einmal versuchen zu definieren, was es eigentlich werden möchte. Ein möglichst föderales Gebilde samt weitreichenden „Harmonisierungen“ der Rechts- und Sozialordnungen? Oder vielleicht doch lieber eine Freihandelszone mit hinreichend gemeinsamen Binnenmarktregeln und einer strategischen Außenpolitik in Feldern, die wirklich alle 27 Mitgliedsländer betreffen müssen, zum Beispiel in der Integrations- und Energiepolitik?