Noch vor einem halben Jahr galt Chinas Wirtschaft als überhitzt. Zwischendurch warnten Ökonomen auch mal vor Stagflation in der Volksrepublik. Nun heißt es, China stehe vor einer Deflation. Was denn nun?
Tatsächlich lag die Inflationsrate im Juni bei 2,2 Prozent und damit so niedrig wie seit fast zweieinhalb Jahren nicht mehr. Die Erzeugerpreise fielen im Vorjahresvergleich sogar um 2,1 Prozent. Vor einem Jahr kämpfte die chinesische Führung noch mit Preissteigerungen von fünf Prozent und mehr. Dass die Inflation nun sinkt, verstärke den Eindruck, dass das Wachstum in China an Fahrt verloren habe, so eine Reihe von Medienberichten. Ich halte diese Krisenmeldungen aus der Volksrepublik jedoch für übertrieben.
Was die Inflation anbelangt: Wenn die Wirtschaft zweistellig wächst, ist eine Inflationsrate um die fünf Prozent nicht wirklich dramatisch – vor allem nicht in China. Schlimm ist es ja nur dann, wenn die Löhne nicht mitsteigen. Das tun sie aber: Im Privatsektor um durchschnittlich 18,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Und wenn nun für dieses Jahr „nur noch“ 7,5 Prozent Wachstum erwartet wird, ist es auch nicht verwunderlich, dass auch die Inflationsrate zurückgeht. Was das reale Wachstum betrifft, hat sich damit gar nicht so viel verändert: Der Wert liegt in beiden Fällen bei plus fünf Prozent. So etwas nennt sich robust.
Doch könnte das Wachstum noch stärker nachlassen und droht China dann vielleicht doch eine Deflation? Das wäre in der Tat dramatisch. Denn ein Preisverfall auf breiter Front gilt als sehr viel gefährlicher als eine Inflation. Verbraucher konsumieren in Erwartung weiter sinkender Preise kaum noch, Firmen werden ihre Waren nicht los und müssen Personal abbauen. Wegen steigender Arbeitslosigkeit sinkt der Konsum weiter und würde einen Teufelskreis in Gang setzen.
Ich persönlich habe hier in Peking aber nicht den Eindruck, dass das Land vor einem solchen allgemeinen Preisverfall steht. Im Gegenteil: Die Löhne steigen auch in diesem Jahr weiter; so wurde im ersten Quartal 2012 in einer Reihe von Provinzen auch der Mindestlohn kräftig angehoben. Aber die Lohnerhöhungen erfolgen nicht nur per Order von ganz oben. Einer aktuellen Umfrage unter mehr als 4.000 Unternehmern zufolge ist in vielen Teilen des Landes die Lage auf dem chinesischen Arbeitsmarkt angespannt. Und zwar nicht etwa wegen steigender Arbeitslosigkeit. In vielen Teilen Chinas fehlt es an Beschäftigten. Auch das lässt die Löhne steigen. Und auch der Immobilienmarkt zieht wieder an, nachdem die Regierung die Restriktionen beim Kauf wieder gelockert hat. Das allgemeine Preisniveau wird in der zweiten Jahreshälfte wieder leicht anziehen.
Michael Pettis, Professor für Finanzen an der Guanghua School of Management der Peking-Universität, ist normalerweise eher für seinen Pessimismus bekannt, wenn es um die Wirtschaftsaussichten der Volksrepublik geht. Er hält die nun langsamer steigenden Preise sogar gut für China. Pettis prangert seit Jahren das streng regulierte Bankensystem an. Die chinesischen Banken haben in den vergangenen Jahren Kredite vor allem an die großen Staatsunternehmen und an einflussreiche politische Einzelpersonen vergeben. An risikoreicheren kleinen und mittelständischen Unternehmen zeigten sie aufgrund des staatlich verordneten Einheitszinssatzes nur wenig Interesse. Warum unsicheren Kandidaten Geld leihen, wenn es zum gleichen Zinssatz bei den Großen gesicherte Einnahmen gibt?
Geschröpft wurden über dieses System Pettis zufolge vor allem aber die chinesischen Sparer. Aufgrund mangelnder Anlagemöglichkeiten sind sie mehr oder weniger gezwungen, ihr Geld auf Sparkonten den Staatsbanken zu überlassen. Der Einlagenzinssatz liegt aber seit Jahren um die drei Prozent. Bei Inflationsraten um die fünf Prozent haben sie damit real an Vermögen verloren.
Nun geht die Inflation auf unter drei Prozent zurück und die reale Verzinsung der Bankeinlagen für die Sparer fällt erstmals seit Jahren positiv aus.
Für die chinesische Führung erweitert der schwächere Anstieg der Verbraucherpreise den Spielraum für eine weitere geldpolitische Lockerung und auch wieder verstärkten Staatsinvestitionen: Premierminister Wen Jiabao hat letzteres auch schon wieder angedeutet. Tatsächlich steht China vor etwas schwierigeren Zeiten.
Angesichts der anhaltenden Schuldenkrise in Europa sind die Ausfuhren im Juni sehr viel langsamer gestiegen als noch im Vormonat. Der Export nahm um 11,3 Prozent zu, während sie im Mai noch um 15,3 Prozent wuchsen. Das ist an und für sich nicht dramatisch – zumal Chinas Führung ja mehrfach betont hat, sie wolle die Exportabhängigkeit Chinas reduzieren. Schlimmer sieht es bei den Importen aus. Die Einfuhren steigerten sich nur noch um 6,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Experten hatten eigentlich mit einem Plus von mehr als zehn Prozent gerechnet. Das deutet darauf hin, dass China doch mehr schwächelt als bislang angenommen.
Freitag gibt es die Wachstumszahlen für das zweite Quartal. Aber selbst wenn es nicht wie bislang erwartet 7,5 Prozent, sondern ein Prozentpunkt weniger, befindet sich China sowohl geldpolitisch als auch was mögliche neue Konjunkturpakete betrifft, immer noch in einer weitaus günstigeren Lage als die USA, Europa und insgesamt dem größten Teil der Welt. Wirtschaftspolitisch sehr unideologisch wurschtelt sich die Volksrepublik weiter durch.