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Chinas zwei Wachstumsgeschwindigkeiten

 

Baukräne, so weit das Auge reicht. In der Zwei-Millionen-Stadt Xining sind es bei Weitem nicht nur Hochhäuser für Büros und Wohnungen, die am Ufer des Huangshui-Flusses hochgezogen werden. Hinter der Bergkette, etwa fünf Kilometer entfernt, steht ein Industriepark mit vielen modernen Fabrikhallen.

Noch haben sich in der Hauptstadt von Qinghai, einer der ärmsten Provinzen in China, zwar noch nicht viele größere Unternehmen angesiedelt. Dennoch boomt es in Xining. Die Wirtschaft wuchs 2010 um 18,2 Prozent und auch im vergangenen Jahr war die Wachstumsrate zweistellig. Auf der noch recht neuen Einkaufsstraße in der Innenstadt kommen die Menschen mit voll bepackten Tüten aus den Kaufhäusern. In Xining ist vom chinesischen Wachstumseinbruch nicht viel zu spüren.

Ganz anders hingegen die Situation in Wenzhou in der Küstenprovinz Zhejiang: Bis vor Kurzem war Wenzhou mit mehr als 400.000 kleinen und mittleren Betrieben eine der wirtschaftsstärksten Städte in China überhaupt. Jetzt kriselt es in der Fünf-Millionen-Hafenstadt – und zwar ganz gewaltig. Kredite versiegen oder können nicht  zurückbezahlt werden, Fabriken machen dicht. Nachdem Arbeitnehmer noch bis Ende des Jahres Lohnerhöhungen im zweistelligen Prozentbereich durchsetzen konnten, sind viele von ihnen ihre Jobs inzwischen ganz los. Über der einstigen Glitzermetropole kreist der Pleitegeier.Zwei Regionen in China mit wirtschaftlich zwei völlig unterschiedlichen Aussichten. Während Chinas Wirtschaft derzeit als Gesamtes an Dampf verliert und nach noch zweistelligen Raten im vergangenen Jahr in diesem Jahr wohl nur noch um 7,5 Prozent wachsen wird, sieht es für einige Regionen geradezu düster aus.

Wir in Europa mögen angesichts der tiefen Krise der Währungsunion derzeit mit Neid auf die immer noch hohen Wachstumsraten Chinas blicken.  Aber vor allem am Perflussdelta im Süden Chinas, zunehmend aber auch an der Jangtse-Mündung an der Ostküste, mit den Metropolen Shanghai, Ningbo und Suzhou ist die Stimmung aber ähnlich schlecht wie in Europa. Dabei waren diese Regionen in den vergangenen Jahren noch Chinas größte Wachstumstreiber.

Was an diesen beiden Gegenden auffällt: Der Einbruch trifft weniger die großen Staatskonglomerate und auch gar nicht so sehr die ausländischen Unternehmen, sondern den chinesischen Mittelstand. Der ist bis heute sehr stark auf den Export fixiert. Und weil vor allem die Ausfuhren nach Europa und in die USA im vergangenen Jahr eingebrochen sind, schlägt sich das entsprechend in der Wirtschaftskraft dieser beiden Regionen nieder.

Zugleich ist in beiden Küstenregionen eine zunehmende Sättigung zu erkennen. Das Nettoeinkommen der Haushalte liegt in Städten wie Guangzhou, Shenzhen und Shanghai durchschnittlich inzwischen bei umgerechnet über 1.000 Euro im Monat. Das heißt: Die Löhne haben in den vergangenen Jahren dort kräftig zugelegt. Das heißt aber auch, dass Unternehmer, die diese Regionen bisher wegen des Kostenfaktors aufgesucht haben, ihnen nun die Rücken kehren.

Der Nachholbedarf im chinesischen Hinterland hingegen bleibt enorm. In Millionen-Städten wie Xining, aber auch Lanzhou oder der 32-Millionen-Stadt Chongqing liegt das Haushaltseinkommen nicht einmal bei einem Viertel im Vergleich zu den reichen Küstenstädten.

Hinzu kommt: Trotz der in ganz China bereits eingesetzten Landflucht der vergangenen zwei Jahrzehnte, lebt die Hälfte der Bevölkerung immer noch auf dem Land.  Die Verstädterung wird und soll aber anhalten. Die Kalkulation der Regierung: Erst wenn die Agrarbevölkerung auf einen Anteil von unter 20 Prozent gesunken ist, kann ihr ein ähnlicher Wohlstand geboten werden wie ihn Menschen im Industrie- und Dienstleistungssektor in den Städten genießen. Weil die Küstenstädte jedoch bereits völlig überlastet sind, soll der Zuzug in die Städte der sogenannten zweiten und dritten Reihen erfolgen.

Solange die chinesische Führung an dieser Politik festhält und sie mit staatlichen Geldern entsprechend unterfüttert, ist deswegen auch künftig mit zweistelligem Wachstum im chinesischen Hinterland zu rechnen. Es liegt daher die Vermutung nahe, dass in China derzeit eine Angleichung stattfindet – und zwar irgendwie auch von oben gewollt.