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Chinas Finanzindustrie steht vor einer Revolution

 

Es passiert nicht oft, dass ausländische Journalisten gleich mehrere ranghohe chinesische Banker auf einmal zu Gesicht bekommen. Am Sonntag war das der Fall. Am Rande des Parteitags der Kommunistischen Partei, auf dem Chinas neue Führung abgesegnet werden soll, bat die Finanzwelt des Landes zur Pressekonferenz. Auf dem Podium saßen Chinas Zentralbankchef Zhou Xiaochuan, der Vorsitzende der Kommission für Bankregulierung sowie die Chefs der Bank of China, der Construction Bank, der ICBC sowie der Agricultural Bank – die inzwischen vier größten Banken der Welt. Was die Herren mit ihrem Auftritt zeigen wollten: China steht in den kommenden Jahren vor einem gigantischen Umbau seines Finanzsystems.

So steht es auch in einem Report, den die britische Großbank HSBC vor Kurzem veröffentlicht und den das Wall Street Journal unlängst aufgegriffen hat. Die HSBC-Analysten gehen davon aus, dass sich das Reformtempo in Chinas Finanzsektor unter der neuen Führung beschleunigen wird. In dem Report ist gar von einer „Revolution“ die Rede.

Für die Umwälzung gibt es Gründe: Der Reformdruck im Land steigt, Chinas neue Führung wird damit mehr zu tun haben als die alte. Viele der neuen Spitzenpolitiker besitzen mehr ökonomischen Sachverstand als jene der früheren Führung. Vor allem auf dem künftigen Premierminister Li Keqiang ruhen große Hoffnungen.

Der neue Premier will Chinas Binnenwirtschaft stärken und den Konsum ankurbeln. Chinas Volkswirtschaft soll unabhängiger werden vom Export. Die Löhne im Land steigen, die Industrieländer schwächeln – das alles wird die Exportquote ohnehin drücken. China will außerdem den Übergang von einem Schwellen- zu einem Industrieland wagen. Dafür müssen sich aber auch die Finanzstrukturen ändern.

Den größten Reformbedarf sehen die HSBC-Analysten im Bankensektor. Chinas Bankinstitute gehören zwar zu den größten der Welt – aber dafür gibt es Gründe: Sie finanzieren die Staatsunternehmen und den Staat. Im Gegenzug genießen sie jegliche Form der Rückendeckung, sobald sie in Schwierigkeiten geraten. Wettbewerb kennen die Banken nicht, sie handeln im Auftrag des Staates. Dieses System hat China beim gezielten Aufbau zur zweitgrößten Volkswirtschaft in den vergangenen drei Jahrzehnten zwar große Dienste erwiesen. Nun aber offenbaren sich gravierende Mängel.

Ein zu schwacher Kapitalmarkt etwa. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass dieser dem Staat zu wenig Geld zur Verfügung stellen kann, um die gewaltigen Investitionen der kommenden Jahre zu finanzieren. Nach Berechnungen der HSBC-Analysten benötigen die Kommunen und Provinzregierungen in den nächsten zehn Jahren umgerechnet zwei bis drei Billionen Dollar, um die vielen Infrastrukturprojekte zu finanzieren, die im Zuge der weiter anhaltenden Landflucht in die Städte anfallen.

Dieses Geld ist bei den Chinesen angesichts einer Sparquote von 50 Prozent durchaus vorhanden. Doch die Bürger rücken mit ihrem Geld nicht heraus. Es fehlt ihnen an attraktiven Finanzprodukten, denen sie vertrauen.

Ein wichtiger Schritt, um das Kapital zu mobilisieren, ist der Aufbau eines Anleihemarktes. Erste Pilotprojekte für Kommunalanleihen gibt es zwar schon. Dem HSBC-Bericht zufolge soll es aber schon bald so viele Anleihen geben, das dieser Markt wirklich von nennenswerter Bedeutung ist. Die Analysten gehen davon aus, dass sich das Anleihevolumen in den kommenden fünf Jahren verdoppeln wird. Das dürfte den Bankensektor entlasten. Der müsste sich schließlich weniger um die Finanzierung der staatlichen Infrastrukturprojekte kümmern und könnte sich stärker um Konsumkredite und den Mittelstand kümmern.

Schon jetzt erwirtschaftet Chinas Privatsektor rund 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Hier werden die Hälfte der Steuern gezahlt, hier arbeiten 80 Prozent aller Angestellten. Bei der Kreditvergabe werden kleine und mittelständische Unternehmen dennoch eher stiefmütterlich behandelt.

Der Grund: In China galt bisher ein Einheitszinssatz, was den Wettbewerb zusätzlich geschwächt hat. In Volkswirtschaften mit weitgehend freien Zinsmärkten müssen kleine, risikoreichere Unternehmen zwar höhere Zinsen in Kauf nehmen. Sie kommen aber an Geld heran. Nicht aber in China. Hier erhalten Banken bei der Kreditvergabe immer den gleichen Zinssatz. Deswegen geben sie ihr Geld lieber an renditesicherere Großunternehmen oder Staatsunternehmen, für die der Staat bürgt. Kleine Unternehmen erhalten oft überhaupt keinen Kredit. Die Aufhebung des Einheitszinses würde zu mehr Wettbewerb im Bankensektor führen.

Chinas Zentralbank hat in den Sommermonaten bereits mit der Liberalisierung des Zinssatzes begonnen. Die neue Führung dürfte diesen Prozess noch beschleunigen, schreiben die HSBC-Analysten.

Für die größte Aufmerksamkeit im Ausland dürfte nach Ansicht der HSBC-Analysten die vollständige Konvertierbarkeit des Renminbi sorgen. Auch hier hat die bisherige Führung die Weichen gestellt. Sie hat begonnen, die Landeswährung zu internationalisieren. China handelt bereits mit einer Reihe von Ländern im Renminbi und nicht mehr wie bis vor Kurzem in Dollar. Elf Prozent des China-Handels wird bereits in Renminbi abgewickelt.

Die Analysten gehen davon aus, dass sich dieser Anteil in den nächsten drei Jahren auf mehr als 30 Prozent erhöhen wird. Damit wäre der Renminbi nach dem Dollar und dem Euro die weltweit drittmeist gehandelte Währung. Spätestens in fünf Jahren, so die Analysten, ist der Renminbi dann vollständig konvertierbar. Behalten die HSBC-Analysten recht, wird Chinas Führung die Kontrolle über einen Großteil des bisher staatlich gelenkten Finanzsektors verlieren. Die Zeit dafür ist gekommen.