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Chinas Märchen von der niedrigen Arbeitslosigkeit

 

Chinas Statistiker haben eine neue Aufgabe: Sie sollen endlich für zuverlässigere Arbeitsmarktdaten sorgen.

Sei Jahrzehnten liegt die Arbeitslosenquote in der Volksrepublik praktisch konstant bei vier Prozent – sowohl in guten als auch in schlechten Zeiten. Vor Beginn der Weltwirtschaftskrise lag sie bei glatten vier Prozent. Nur im Frühjahr 2009 war die Zahl für kurze Zeit nach oben geschossen. Doch schon das erste Konjunkturpaket drückte sie wieder nach unten. Auf wie viel Prozent? Auf vier natürlich! Aktuell liegt die Quote bei 4,1 Prozent. Kein Wunder, dass kaum ein Ökonom, der etwas auf sich hält, die offizielle Arbeitslosenzahl wirklich ernst nimmt. Die offiziellen Zahlenwerke des Landes dienten bisher eher als loser Anhaltspunkt zur Lage der Nation.

Die verblüffende Gleichmäßigkeit ist jedoch keinesfalls nur eine plumpe Lüge. Sie hat auch damit zu tun, wie die Daten erfasst werden. Gezählt wird nur die Arbeitslosigkeit in der städtischen Bevölkerung. In China gib es ein besonders strenges und inflexibles Einwohnermeldewesen, den sogenannten Hukou: Wer in der Stadt geboren ist, wird als Stadtbürger registriert. Wer auf dem Lande geboren ist, behält praktisch sein Leben lang eine Registrierung als Bauer. Und als Bauer ist man in der Volksrepublik nicht ohne Arbeit. Man ist eben Bauer.

Die strenge Unterteilung in Stadt- und Landbewohner hat sozialpolitische Gründe. Weil die Volksrepublik lange Zeit nicht allen ihrer 1,3 Milliarden Menschen eine Sozialversicherung finanzieren konnte, erhielten nur Stadtbürger dieses Privileg. Die Menschen auf dem Land bekamen zur Kompensation ein Stück Land zugeteilt, was sie zur Selbstversorgung bestellen konnten. Die Überschüsse konnten sie den Bürgern in den Städten verkaufen.

Doch im Zuge der Industrialisierung haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten immer mehr Bauern ihre Parzellen verlassen. Sie sind in die Industrieregionen gezogen, um als sogenannte Wanderarbeiter in den Fabriken ihr Auskommen zu bestreiten. Obwohl sie in den Städten lebten und arbeiteten, blieben sie in der Statistik auf dem Land als Bauern registriert. Nicht wenige von ihnen haben inzwischen sogar studiert oder sind auf anderen Wegen beruflich aufgestiegen. Einige arbeiten längst in schönen Büros in der Stadt. Offiziell sind sie aber weiterhin als Bauern gemeldet.

Wenn nun wie in den vergangenen Jahren auch in China die Konjunktur zum Teil erheblich schwankt, dann tut sie das überwiegend in Branchen wie der Exportindustrie, dem Bauwesen oder der Werftenindustrie, wo eben vor allem Arbeiter vom Lande beschäftigt sind. Ob sie Arbeit haben oder nicht, taucht in der Statistik aber nicht auf. Offiziell sind sie ja weiter Bauern.

So steht derzeit der Verdacht im Raum, dass angesichts des deutlichen Exportrückgangs vor allem nach Europa und in die USA die tatsächliche Arbeitslosenzahl in China dramatisch gestiegen ist. Am Perlflussdelta vor den Toren Hongkongs, wegen seiner Exportindustrie bis vor Kurzem noch bekannt als Werkbank der Welt, ist dieser Rückgang derzeit besonders deutlich zu spüren. Viele der ehemaligen Fabrikarbeiterinnen und Fabrikarbeiter sind nun zurück nach Hause aufs Land gezogen und bestellen wieder ihre Felder.

China ist längst zu einem modernen Land aufgestiegen mit einer hochkomplexen Volkswirtschaft. Wie andere Industriestaaten auch, benötigt die chinesische Führung zuverlässige Daten über die im Land tatsächlich vorherrschende Arbeitslosigkeit. Die neue Führung unter Premier Li Keqiang hat daher die Statistikämter beauftragt, die Erfassung der Daten zu ändern. Wie bei einer Volkszählung ziehen im ganzen Land nun Beamte von Tür zu Tür und befragen die Bewohner nach ihrem Beschäftigungsstatus.

Das ist ein Fortschritt. Auch wenn in der Volksrepublik noch immer die Familie die beste Arbeitslosenversicherung sein mag – Chinas Ökonomen und die Führung sollten wissen, woran sie wirklich sind.