China war schon mal angesagter. Die Löhne im Land steigen, die Auslandsnachfrage schrumpft – viele Unternehmen verlegen ihre Fabriken mittlerweile nach Südostasien. Die Kapitalflucht mag China vordergründig schaden. In Wahrheit ist die Entwicklung jedoch segensreich, für China selbst, aber auch für den Rest der Welt.
Die englischsprachige China Daily zitiert in ihrer aktuellen Ausgabe einen Beamten des Handelsministeriums. Ihm zufolge stehen fast ein Drittel der chinesischen Hersteller von Textilien, Schuhen und Hüten unter Druck, keine Aufträge mehr zu erhalten. Das Groteske: Der Autor des Artikels in der chinesischen Staatszeitung scheint den Auftragsrückgang und die Abwanderung keineswegs zu beklagen. Im Gegenteil: Er kann ihm sogar etwas Gutes abgewinnen.
Tatsächlich ist die Veränderung staatlich gewollt. Chinas Führung will weg von seiner großen Exportabhängigkeit, hin zu einer robusteren Binnenwirtschaft mit mehr sozialer und ökologischer Ausgewogenheit. Billig, billig soll im Reich der Mitte schon bald passé sein.
Mehr als zwei Jahrzehnte hat China ein Wirtschaftsmodell verfolgt, das dem Land hohe Wachstumsraten beschert hat. Waren zu Billiglöhnen herstellen lassen, die ganze Welt mit Produkten überschwemmen und die Einnahmen daraus in die Infrastruktur stecken – mehr als eine halbe Milliarde Menschen hat die Kommunistische Partei auf diese Weise aus der Armut geholt.
Nun will die Führung den Lebensstandard im Land erhöhen. Die Löhne sollen flächendeckend angehoben werden. Die Boston Consulting Group rechnet vor, dass die Löhne seit 2006 bereits im Durchschnitt um rund 20 Prozent pro Jahr gestiegen sind. 16 Provinzen haben zwischen Januar und Juni den staatlich garantierten Mindestlohn um 20 Prozent erhöht, berichtet das chinesische Arbeitsministerium. In reichen Städten wie Shenzhen oder Peking liegt er nun bei 1.500 Yuan im Monat, umgerechnet rund 180 Euro. Auch der 12. Fünf-Jahres-Plan, der noch bis 2015 gelten soll, verpflichtet Chinas Unternehmer, verstärkt auf mehr hochwertige und weniger umweltschädliche Technologien zu setzen.
Der Strukturwandel verläuft nicht ohne Schmerzen. Die Wirtschaft wird langsamer wachsen, erste Anzeichen hierfür gibt es bereits. Der Wandel kostet Arbeitsplätze, einige Unternehmen werden Bankrott gehen. Die bisherige Werkbank der Welt verliert einen ihrer wesentlichen Standortvorteile.
Die Entwicklung wirft zugleich zwei Fragen auf. Die erste betrifft China: Wie wird das Land den Wegfall der Exportarbeitsplätze ausgleichen? Die zweite Frage richtet sich an uns alle: Was bedeutet der Wandel in China für den Rest der Welt?
Chinas Führung ist überzeugt, den Wandel bewältigen zu können. Schon jetzt entstehen im Dienstleistungssektor mehr neue Jobs als in der Industrie. Immer mehr Chinesen schließen zur Mittelklasse auf und finden Jobs in Restaurants, Geschäften, Büros und anderen Dienstleistungsbetrieben.
Auch für den Rest der Welt bringt der Strukturwandel in China Gutes. Der gewaltige Ausstoß an preiswerten Waren aus China hat in den vergangenen Jahren Ungleichgewichte geschaffen. Er hat in den USA eine Ausdehnung der Geldmenge möglich gemacht, die mit in die Subprime-Krise geführt hat. Als Nebenwirkung der höheren China-Kosten könnten in der Tat die Preise für Waren aller Art etwas steigen – schließlich kommt vom Apple bis zur Erdbeere heute so ziemlich alles aus Fernost.
Die positiven Auswirkungen dürften aber überwiegen. Tatsächlich stehen gerade weniger qualifizierte Arbeitskräfte weltweit im Wettbewerb miteinander. Auch wenn Mitt Romney sich damit eher lächerlich macht, China die Schuld an Amerikas Misere zu geben: Europa und die USA haben selbstverständlich Jobs nach Fernost verloren. Die kommen auch nicht wieder zurück. Doch wenn Asien teurer wird, nimmt das ein wenig Druck vom unteren Drittel des Arbeitsmarktes auch in Deutschland.
Die deutsche Industrie vor Ort sieht den Lohnanstieg übrigens überraschend gelassen. Wer wirklich auf Billigproduktion angewiesen ist, verlagert zum Teil in andere Länder wie Bangladesch oder Vietnam. Andere Firmen verlegen ihre Fabriken ins chinesische Hinterland, das auf absehbare Zeit noch bezahlbar bleiben wird. Viele hochspezialisierte Firmen sind jedoch gar nicht in China, weil sie hier billig für den Weltmarkt herstellen wollen. Sie wollen einfach nah am Markt sein. Hier wiederum gelten zunehmend gleiche Löhne für alle, auch für die chinesische Konkurrenz.
Vor allem aber: Wenn China reicher wird, fragt es mehr hochwertige deutsche Produkte nach – seien es Autos und ihre Zulieferteile, Badezimmerzubehör, umweltfreundliche Hausdämmung, arbeitssparende Maschinen und all die anderen Waren, für die die Deutschen bekannt sind.
Im Laufe der Jahre hat sich das China-Bild des Westens gewandelt. Dabei ist ein seltsamer Widerspruch zu beobachten. Früher warfen westliche Wirtschaftsführer China vor, zu billig zu sein. Viele in den USA klingen jetzt hingegen so, als seien die steigenden Preise in China Teil eines infamen Manövers, um dem Westen wieder irgendwie zu schaden. Ein bisschen steckt dahinter wohl die Angst, dass China so wie einst Japan und Südkorea plötzlich auf Augenhöhe dastehen könnte. Bloß zehnmal größer.