Das Hinterteil schmerzt, der Nacken ist steif, Hände oder Füße werden taub. Derlei Beschwerden kennen viele Radfahrer. Die Ursache können mit der passenden ergonomischen Einstellung beseitigt werden. Das klingt jedoch einfacher, als es ist.
Juliane Neuß ist in der Fahrradbranche eine der bekanntesten Ergonomie-Expertinnen in Deutschland. Sie schreibt Fachbücher, baut Räder für Kleinwüchsige, schult Händler und Meister, hält Vorträge und justiert in Einzelsitzungen Kundenräder. Ich war mit meinem Reiserad bei ihr.
Eigentlich bin ich mit meinem Rad sehr zufrieden. Nach vier Stunden im Sattel schmerzen manchmal die Schultern, aber das kann am mangelnden Training liegen. Juliane Neuß lächelt wissend, als ich das sage.
„Wir messen zunächst den Satteldruck“, antwortet sie und stülpt eine gebioMized-Folie mit 64 Sensoren über den Sattel. Der ist der neuralgische Punkt beim Rad. Neben Sitzproblemen können hier auch Schmerzen im Knie und in der Hand sowie taube Füße ihren Ursprung haben.
„Die meisten Leute sitzen zu tief“, sagt die Expertin. Immer noch meinten viele Menschen, der Fuß müsse den Boden berühren, wenn man im Sattel sitze. Dabei sei das Gegenteil der Fall. Ihr Tipp: den Sattel höher stellen. Als grobe Faustregel gilt für ein Trekkingrad: Die Satteloberfläche liegt etwa auf Gürtelhöhe, sofern dieser auf der Hüfte aufliegt.
Im Fahrradladen geht es natürlich genauer. Etwa fünf Zentimeter zieht Juliane Neuß die Sattelstütze meines Rads heraus. Die maximale Sattelhöhe ist erreicht, wenn die Verlängerung der Oberschenkellinie (führt etwa entlang der Jeansnaht) auf die Fußspitze trifft. Dabei muss der vordere Fußballen auf dem Pedal ruhen, das Bein ist fast komplett gestreckt und die Ferse angehoben.
Allerdings verfehlt der Zollstock meine Fußspitze. Die Expertin nennt dafür zwei Gründe: Die 172,5er-Kurbeln sind für mein Rad zu lang. Ich habe kurze Oberschenkel und brauche deshalb 160er. Die müssen aber erst bestellt werden. Nachdem sie den Winkel des Knies in verschiedenen Pedalstellungen kontrolliert hat, nickt sie zufrieden. Sie stimmen mit ihren Vorgaben überein. Das heißt, ich übertrage die Kraft in dieser Sattelhöhe optimal aufs Pedal – trotz zu langer Kurbeln.
Ansonsten habe ich Glück. Der Sattel passt. Er ist tailliert, schmal, ein Männersattel. Nur die Nase muss etwas abgesenkt werden. Für viele Händler ist das ein Tabu. Für sie gilt: Ein Sattel muss waagerecht ausgerichtet sein. Laut Juliane Neuß richte ich in dieser Position allerdings mein Becken auf. Das macht meinen Rücken rund, langfristig können Bandscheibenprobleme entstehen. „Durch das Absenken des Sattels kann die Wirbelsäule ihre natürliche Haltung einnehmen“, erklärt Neuß.
Bereits die wenigen Beispiele zeigen, dass es keine Patenteinstellung für alle Fahrer gibt. Dazu sind die Menschen zu unterschiedlich gebaut.
Juliane Neuß hat ihre Theorie in jahrelanger Praxis entwickelt. „Fachliteratur zu dem Thema ist Mangelware“, sagt sie. Die Einstellungen, die sie vornimmt, beruhen auf Ausprobieren, eigenem Fahren, dem Beobachten von Kunden und deren Rückmeldungen nach einer Tour.
Ihr Konzept deckt sich in vielerlei Hinsicht mit dem von Ben Serotta. Der Rahmenbauer aus Amerika hat wie Neuß ein verstellbares stationäres Vermessungsrad entwickelt. Auf dem kann der Fahrer während des Pedalierens in allen Positionen beobachtet werden, verschiedene Anpassungen können getestet werden. Mit dem Messbock „Velochecker“, den Juliane Neuß mit dem Fahrradhersteller Patria entwickelt hat, arbeiten mittlerweile etwa ein Dutzend Händler in Deutschland.
Als nächstes nimmt sie sich meinen Lenker vor. Oberschenkel anspannen, Rücken gerade halten, eine Hand am Lenker, die andere in der Position halten, die diese automatisch einnimmt. Meine freie Hand rückt einige Zentimeter vor den Lenker. Um ihn zu verlängern, montiert sie einen H-förmigen Vorbau. Jetzt bilden Arme und Körper genau den empfohlenen 90-Grad-Winkel. „Handgelenks- oder Nackenprobleme haben wenig mit der Lenkerhöhe zu tun, aber viel mit der falschen Rahmenlänge“, sagt Juliane Neuß. „Die meisten Menschen sitzen auf zu kurzen Rahmen.“ Der Körper gleicht das durch Fehlhaltung aus.
Anschließend senkt sie meinen Lenker um einen Zentimeter. Meine Schultern sind nun viel entspannter. Dann überprüft sie ein letztes Mal die Druckmessung des Sattels. Sie ist zufrieden. Der Belastungsbereich hat nur noch ein Drittel seiner vorherigen Größe. In der ersten Messung war der schwarze Belastungsbereich groß und unruhig. Jetzt konzentriert er sich auf einer bedeutend kleineren Fläche in der Mitte. So soll es sein.
Zwei Stunden hat ihre Beratung gedauert. Ebenso lange bin ich anschließend mit dem Rad unterwegs. Was ich feststelle: Ich bin schneller als sonst – ohne mehr Kraft aufzuwenden. Eigentlich hatte ich mit Sitzbeschwerden gerechnet, doch Fehlanzeige. Stattdessen kann ich das Rad besser ausbalancieren und muss seltener absteigen, wenn die anderen in der Gruppe langsamer fahren oder anhalten. Allerdings ist meine Grundhaltung auch aktiver, sportlicher.
„Wer ergonomisch korrekt fährt, beteiligt möglichst viele Muskeln an der Arbeit“, sagt Juliane Neuß. Das kann anstrengend sein, verursacht aber keine Schmerzen. Die Kunst besteht darin, jeden einzelnen Muskel in seinem optimalen Arbeitswinkel arbeiten zu lassen.
So viel Zeit wie Juliane Neuß nehmen sich nur wenige Fahrradhändler. Vielen fehle auch das Wissen, um die Räder an den Kunden anzupassen, sagt sie. Aber die Zahl der Experten steige. Das ist auch ihr Verdienst. Denn seit einigen Jahren unterrichtet sie angehende Meister in diesem Fachbereich und schult Händler in Seminaren.