Jeder, der lange Touren bestreitet, kennt diese meditativen Momente auf dem Rad: Wenn die Beine wie ein Uhrwerk treten, sich der Kopf erst leert und irgendwann ein Problem oder eine Aufgabe sich zeigt, die beim Fahren durchgedacht werden will. In dem Buch Die Philosophie des Radfahrens, erschienen im Mairisch Verlag, kann man 15 internationale Autoren eine Weile beim Denken begleiten.
In Kapiteln mit Namen wie Auf die harte Tour …, Aus den Schuhen auf den Sattel oder Außer Kontrolle wird das stundenlange gleichförmige Treten in der Natur zu einem philosophischen Ausflug mit sehr konkretem Bezug zum Radfahreralltag. Die Philosophieprofessoren, Sportjournalisten und Radprofis schreiben über die Ethik von Wettbewerb und Erfolg, Verkehrspolitik im Ausland oder machen einfach nur Lust aufs Radfahren in all seinen Spielarten. Manche Erzählung ist amüsant, und häufig erkennt der Leser sich wieder, etwa wenn Steven D. Hales seine ersten Radreise schildert.
Wie viele Radnovizen ist er schlecht vorbereitet und noch schlechter ausgestattet zu seiner ersten Tour aufgebrochen. Die Folgen sind absehbar: Ein schmerzender Hintern, totale Erschöpfung und zu allem Übel hat irgendwann einer seiner Mitfahrer einen schlimmen Unfall. Die Erkenntnisse, die Hales auf seinem Weg vom Laien zum Tourenfahrer sammelt, fasst er in sechs Lektionen zusammen. Die vierte lautet ebenso kategorisch wie realitätsnah: „Hör auf zu heulen und reiß dich zusammen. Und trage immer einen Helm.“
Die sehr konkrete Sprache zieht sich durch alle Kapitel. Ebenso die Erkenntnis. Die Philosophieprofessorin Heather L. Reid hat lange Jahre auf eine Olympiateilnahme hin trainiert. Als sie die Qualifikation verpatzte, war sie trotz der Niederlage erstaunlich zufrieden. „Ich war ein gutes Rennen gefahren … habe meine Karten so gut ich konnte gespielt – meine Gegnerin war einfach schneller.“ Für sie war ihre Reaktion die logische Konsequenz aus vielen Jahren harter Arbeit im Radsport mit dem Ziel, eine olympische Athletin zu werden. In der Zeit lernte sie sich durchs Radfahren mit all seinen Höhen und Tiefen sehr genau kennen und verfolgte ihre Ideale. Radfahren war, wie sie sagt, ihr Weg zu mehr Weisheit und Tugend. Zu denen gehören ganz selbstredend auch Aufrichtigkeit und Sportsgeist – wichtige Attribute nicht nur für Philosophen.
Als Lance Armstrong im Jahr 2000 bei der zwölften Etappe der Tour de France auf der Zielgeraden Marco Pantani den Sieg überließ, schäumte der Italiener vor Wut. Raymond Angelo Belliotti beschreibt das sehr eindrucksvoll in seinem Kapitel Außer Kontrolle. Kaum ein Sportler freut sich über einen überlassenen Sieg. Noch weniger aber über Betrug. Die Professorin Reid war enttäuscht, als sie Jahre nach ihrer Niederlage erfuhr, das einige ihre Gegnerinnen gedopt und sie getäuscht hatten. Sie haben ihr die Möglichkeit verwehrt, sich wirklich mit ihnen zu messen. In ihrer Beschreibung bekommt man eine Idee davon, wie sich Tour-Teilnehmer fühlen müssen, denen ein Sieg verwehrt wurde, weil die vermeintlichen Sieger sich Jahre später als Doper entpuppten.
Sich messen, sich selbst kennenlernen, sich weiterentwickeln. Und Werte kultivieren wie Mut, Disziplin, Respekt und Gerechtigkeit. Das sind zentrale Punkte, über die die Autoren in ihren Essays schreiben. Das hört sich abgehoben an, ist es aber gar nicht. Die Schreiber sind stets bodenständig und lesernah.
Selbst die aktuelle Verkehrspolitik kommt nicht zu kurz. Es gibt den Blick nach Kopenhagen und einen interessanten Beitrag über das Phänomen Critical Mass. Die sehr verkürzte sinngemäße Zusammenfassung des Kapitels lautet: Critical Mass bietet keine Lösung für die aktuellen Verkehrsprobleme. Sie schafft aber Voraussetzungen, um darüber nachzudenken, wie öffentliche und soziale Räume neu genutzt werden können. Sehr passend ist dazu die Einschätzung von Amy Stork, der Mitbegründerin des Pro-Fahrrad-Netzwerks Shift in Portland. Sie schätzt Critical Mass, weil es gut sei, einen radikalen Flügel zu haben, wenn man einen Kulturwandel bewirken wolle. Sie sagt: „Wenn die Leute Critical Mass sehen und ihnen die Bewegung radikal vorkommt, dann erscheint ihnen die Errichtung eines Fahrradweges vernünftig. In Gegenden, wo es Critical Mass nicht gibt, kommt ihnen ein Fahrradweg radikal vor.“
Philosophie des Radfahrens ist kein Schmöker. Es ist ein Buch, das man immer wieder gerne zur Hand nimmt, um ein Kapitel zu lesen. Radfahrer werden es mögen. Schon allein wegen des imperativen Charakters, der einem immer wieder Lust macht, selbst aufs Rad zu steigen. Eine meiner Lieblingsstellen ist die, wo Hales den deutschen Philosophen Peter Sloterdijk aus Du musst dein Leben ändern zitiert. „Gebirge kritisiert man nicht, man besteigt sie oder lässt es bleiben“, schrieb Sloterdijk. Hales übersetzt das mit: „Reißt euch zusammen, verlasst das Flachland und erobert den Gipfel!“ Also: Auf geht’s.
J. Ilundáin-Agurruza / M. W. Austin / P. Reichenbach (Hg.): Die Philosophie des Radfahrens, Mairisch Verlag, Mai 2013, 208 Seiten. Hardcover 18,90 Euro, Kindle 9,90 Euro. Hier geht es zur Leseprobe.