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Von London nach Istanbul: Abenteuertrip und Werbetour

 

© Nohlin / Yesil
© Nohlin / Yesil

Das hatte sich Recep Yesil anders vorgestellt. In der dritten Nacht des ersten Transcontinental Race von London nach Istanbul fühlte er sich krank. Jeder Kilometer auf dem Rad war eine Qual. Immer wieder legte er sich für einen Kurzschlaf ins Kornfeld. Aber er musste seinen Teamkollegen Erik Nohlin einholen. Der hatte 90 Kilometer Vorsprung, nachdem Yesil am frühen Abend ein paar Stunden geschlafen hatte.

„Das war die schlimmste Nacht meines Lebens“, sagt Yesil. Nach neuneinhalb Stunden stand er am Morgen endlich vor Nohlins Zelt. Doch jetzt ging nichts mehr. „Ich war einfach krank“, sagt Yesil. Eine Katastrophe. Denn er erfüllte sich gerade nicht nur einen Traum, die Tour war auch Teil seines Jobs.

Mit Nohlin hatte er sich zu dem Rennen von der britischen Hauptstadt bis an den Bosporus angemeldet, um ein neues Rad vorzustellen, das Awol. Die Abkürzung steht für absent without official leave, zu Deutsch: Fahnenflucht. Statt mit Fakten hausieren zu gehen, wollten die beiden Produktentwickler des Fahrradherstellers Specialized das Velo so präsentieren, wie sie es verstehen: als Adventure-Rad, mit dem jeder Fahrer sein ganz persönliches Abenteuer erleben kann. Wie Recht sie mit ihrer Definition hatten, haben sie erst auf der Tour festgestellt.

Das Transcontinental Race ist ein neues Selbstversorgerrennen, wie die Tour Divide oder die deutsche Grenzsteintrophy. Doch anders als bei diesen Rennen bestimmen die Fahrer von London nach Istanbul selbst, welche Strecke sie fahren. Sie müssen nur zwei Kontrollpunkte passieren: eine Steigung der Flandernrundfahrt in Belgien und den höchsten Gebirgspass in Italien, das Stilfser Joch. Ansonsten gilt: Jeder versorgt sich selbst, Übernachtungen werden kurzfristig organisiert – und nur spontane Unterstützung ist erlaubt.

© Reidl
© Reidl

Wer die beiden Awol-Räder sieht, muss zweimal hinschauen, um zu erkennen, dass es zwei Exemplare ein- und desselben Modells sind. Nohlins Rad leuchtet in schillernden Regenbogenfarben und ist mit einem Riemen und der elektronischen Schaltung Shimano Alfine Di2 ausgestattet, während Yesils Rad, unlackiert bereits vor der ersten Ausfahrt, mit Rostflecken aufwartet und mit Kettenschaltung fährt.

So unterschiedlich wie die Räder sind auch ihre Besitzer. Nohlin, der Schwede, ist ein trainierter Fahrer. Einer, der Langstrecken liebt, wie das 1.200 Kilometer lange Nonstop-Rennen Paris-Brest-Paris. Yesils Kondition für die Tour sollte aus seiner Zeit als Fahrradkurier kommen; die lag allerdings schon einige Jahre zurück. Aber er war optimistisch. „Wenn die Einstellung stimmt, dann schaffst du es auch“, dachte er.

Nun saß er in einem Kaff zwischen Metz und Straßburg und musste sich etwas überlegen. Schließlich wollte er die 3.200 Kilometer lange Strecke zu Ende bringen, und zwar in 14 Tagen, wie die beiden es sich vorgenommen hatten. Recep Yesil musste etwas ändern. Nach sechs Stunden Schlaf in einem Hotel meldete er sich beim Rennleiter Mike Hall über das offizielle Awol-Blog. Für jeden sichtbar schilderte er seine Situation und erklärte, er werde seinen Partner per Bus einholen und am nächsten Tag mit ihm weiterfahren. Allerdings nicht mehr als Rennen.

Im Nachhinein war diese Entscheidung wichtig. Mit ihr fiel der Druck von Yesil ab. Er brauchte kein Rennen zu fahren, er brauchte nur noch anzukommen. Von dem Zeitpunkt an war er nicht mehr krank, sondern fuhr die Strecke wie geplant komplett bis nach Istanbul. Für seinen Partner war genau das Gegenteil die Herausforderung: Er musste sein Tempo drosseln. „Erik hätte das Rennen wahrscheinlich gerne gewonnen, aber sein Anspruch war es, sich meiner Geschwindigkeit anzupassen“, sagt Yesil.

So fuhr jeder seine ganz persönliche Tour. Sie pedalierten nicht permanent zusammen, aber trafen sich zum Essen oder abends zum gemeinsamen Zelten.

© Nohlin / Yesil
© Nohlin / Yesil

Eine Vorstellung von den Strapazen der Tour bekommt man, wenn man Nohlin hier im Video in den Bergen sieht, wie er bei Regen und Sturm sich bergauf quält und vor Erschöpfung gegen eine Steinmauer fährt. In dem Blog sieht man Schnappschüsse aus den Alpen, aus Serbien und Kroatien, und man beobachtet das Wechselspiel der Temperaturen, von kalt und nass zu trocken und heiß, das den Fahrern erst die Haut an den Hände aufweicht und ihnen später Salzränder wie Umrisse von Ländergrenzen aufs Trikot zeichnet.

Seit mehr als 20 Jahren hatte Yesil davon geträumt, mit dem Rad nach Istanbul zu fahren. Er wollte immer dort als Kurierfahrer arbeiten. Dieser Traum brachte ihn schließlich bis zur türkischen Grenze. Immer wieder hatte er sich diesen Moment vorgestellt. Nun stand er an der Grenze und empfand… gar nichts. Und Istanbul – die Stadt, in der er so gern als Kurierfahrer gearbeitet hätte – fand er mit dem Rad einfach nur lebensgefährlich.

Im November soll nun ein Film über die Qualen der Tour erscheinen. Wenn er die Erwartungen erfüllt, die der Trailer weckt, dann wird es eine geniale Werbekampagne, die in ihrer Art selten ist, weil sie authentisch ist. Der Film begleitet seine Protagonisten, wenn sie am Limit sind und wenn sie großartige Momente erleben. Und das Rad? Mit dem ist es wahrscheinlich so wie mit jedem Abenteuer: Man muss es selbst erleben.

Mehr Infos – von der Ausrüstung bis zur Musik, die die beiden während der Tour hörten – gibt es hier in dem Awol-Blog.

© Nohlin / Yesil
Angekommen: Erik Nohlin (links) und Recep Yesil in Istanbul © Nohlin / Yesil