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Zurück in den Sattel 2: Schöne Sportkleidung für Dicke? Fehlanzeige!

 

Radshirt: Passt auch Menschen mit Bauch © Sandra Jacques
Radshirt von Twin Six : Passt auch Menschen mit Bauch © Sandra Jacques

„Radkleidung kaufen ist erniedrigend“, sagt Christian Krämer. In der Radhose, Größe XL, steckt er zwar drin, kann sich aber nicht mehr rühren. Trikots bekommt er in Deutschland gar nicht, jedenfalls nichts, was ihm gefällt und passt. Dabei ist er gar nicht so ein Schwergewicht. Jeans, Hemd und Pulli kauft er in Normalgröße.

Der Besuch im Sportgeschäft war überfällig. Bei Minustemperaturen kann Krämer nicht im Baumwoll-Shirt im Wald trainieren. Und er muss raus. Am ersten Samstag im August will Krämer eine Runde bei Schlaflos im Sattel (SIS) drehen. Das Moutainbike-Rennen ist einzigartig in der Bikeszene. Die Teilnehmer rasen nachts durch den Pfälzer Wald und wer nackt unterwegs ist, bekommt auf jeden Fall einen Preis. Warum er ausgerechnet dort starten will? Christian Krämer alias „Phaty“ hat sich das Rennen ausgedacht und organisiert es seit neun Jahren. Sein Handicap: Er ist Fußgänger und viel zu schwer. Deshalb muss der 46-Jährige abnehmen und bis zum Sommer Mountainbiker werden. ZEIT ONLINE begleitet ihn dabei. Dieses Mal beim Kleider- und Fahrradkauf.

In Deutschland Sportkleidung zu kaufen ist Phaty ein Graus. „XL hatten wir zweimal, aber die sind schon weg“  ist der Standardspruch, den er von Verkäufern hört. Wenn man in den Online-Radshops der Markenhersteller sucht, ist es nicht besser. Zwar werben viele Hersteller für Hosen oder Shirts von 3XL bis 5XL, doch will man sie bestellen, sind sie ausverkauft.

Einer, der das ändern will, ist Gerhard Flatz. Der Österreicher lebt seit Jahren in China und ist Geschäftsführer von Knowledge, Technology, Craft kurz KTC Limited. Die Firma produziert Funktionskleidung unter anderem für Mammut, Odlo, ARc’tERyx oder dem Edel-Fahrradbekleidungslabel Rapha. Sie sind die Kleidungspezialisten für Extrembedingungen – sie statten zum Beispiel Sportler aus, die bei Marathonläufen in der Arktis starten.

Flatz ist der typische Manager. Ein Workoholic, wie er selber sagt. Einer, der viel sitzt, sich kaum bewegt, bis spät in den Abend hinein arbeitet und anschließend mit seinen Geschäftspartnern gut isst. Phatys Kleiderproblem kennt er. Flatz bringt 150 Kilo auf die Waage.

Im Gegensatz zu Christian Krämer hat er jedoch Angestellte, die ihm die Sportbekleidung passgenau auf den Leib schneidern. Seit Jahren liegt ein Konzept für Sportbekleidung in Übergrößen in seiner Schublade. Ihn fasziniert die Idee einer mondänen Radlinie von XL bis XXXXXL, die ebenso ästhetisch ist wie funktional. Das ist genau das, was Phaty sucht. Shirts in Stil von Rapha in seiner Größe – klassisch schöne Radtrikots im zeitlosen Retrolook, das Material vom Feinsten. Was Flatz für die Umsetzung fehlt, sind die Schnitte und die Erfahrung mit diesen Größen.

„Schwere Menschen schwitzen schnell. Sie brauchen Radhosen, die am Bein gut sitzen und nicht einschneiden oder scheuern“, sagt Flatz. Außerdem brauchen sie Sitzpolster, die 150 Kilo Gewicht puffern. Flatz‘ Mitarbeiter müssen im Labor Elastikbänder und Hosenpolster testen und neue Schnitte entwerfen. Schließlich funktioniert ein taillierter Schnitt nicht für diese Zielgruppe, die Schnitte müssen eher der Birnen- oder Apfelform entsprechen.

Jetzt lässt Flatz für Phaty eine erste Kollektion fertigen. „Er ist kein Extremfall, er ist kurz vorm Ziel“, beschreibt Flatz Phatys Fülle. Seiner Ansicht nach existiert die Zielgruppe der Schwergewichtigen. In Amerika gibt es sie schon lange, die unsportlichen Molligen, in China wächst die Zielgruppe gerade heran. In Deutschland informierte das Statistische Bundesamt 2010: Mehr als jeder Zweite in Deutschland hat Übergewicht.

Ob Flatz‘ Idee funktioniert, wird sich zeigen. „Bislang harmonieren Dicksein und Sport nicht“, sagt er. Mit ansprechender und passender Kleidung ist die Überwindung, Sport zu treiben, aber sicherlich niedriger als in Kleidung in Zelt- und Tütenformaten.

Krämer hat sich ein Sportshirt in Amerika bei Twin Six in der Größe XXL besorgt. Ein Rad, das ihm gefällt, hat er auch. Eigentlich ist er prädestiniert für ein Pedelec. Helmut Lötzerich, Professor am Institut für Natursport und Ökologie der Sporthochschule Köln, empfiehlt Übergewichtigen Elektroräder mit tiefem Einstieg, um peu à peu Kondition und Muskeln aufzubauen. Aber was praktisch klingt, ist nicht unbedingt sexy. Phatys Rad soll aber sexy sein.

Mit dem neuen Rad langsam im Wald unterwegs © Sandra Jacques
Mit dem neuen Rad langsam im Wald unterwegs © Sandra Jacques

Sein Vorteil: Viele seiner Freunde fahren die komplette Velo-Artenvielfalt und warten seit Jahren darauf, dass er endlich aufs Rad steigt. Innerhalb kürzester Zeit hatte sein langjähriger Freund Sascha Marx ein Rad für ihn gefunden: ein 29er Mountainbike von Cannondale. Ein Fully, also vorn und hinten gefedert, auf dem Phaty recht aufrecht sitzen kann.

Zwischen Mountainbike und Tiefeinsteiger gibt es eine Vielzahl von robusten Rädern, die für schwere Menschen geeignet sind. Wie bei jedem Rad sind Ergonomie und eine gute Beratung entscheidend. Wichtig ist es für füllige Fahrer außerdem, auf die Gesamtlast zu achten, die das Rad tragen kann. Das Sumo R14, das die Firma Schauff aus Remagen baut, verträgt zum Beispiel eine Zulast von 200 Kilogramm. Es ist nicht nur ein echter Schwertransporter, es ist auch ein schönes und solides Trekkingrad, mit dem man um die Welt radeln kann.

Jan Schauff verwendet für das Sumo R 14 Komponenten, die er an Tandems verbaut. Die Speichen sind versteift, die Rohre haben einen größeren Durchmesser, die Gabel hat einen Durchmesser von 1,5 Zoll statt einem Zoll und der Brookssattel B66 einen Doppelrahmen. Das Rad ist so gebaut, dass auch gewichtige Fahrer sorgenfrei im Wiegeschritt bergauf fahren und dabei am Lenker ziehen können.

Der Name ist Programm. Das Sumo trägt laut Hersteller 200 Kilo © Schauff
Der Name ist Programm. Das Sumo trägt laut Hersteller 200 Kilo © Schauff

Phaty ist mit seinem Mountainbike glücklich. Kürzlich ist er mit ihm ein wenig durch den Wald gefahren. Vorsichtig. In einer Woche fährt er zum Leistungstest nach Köln, dort bekommt er einen Trainingsplan. „Vergiss den Trainingsplan, fahr einfach los“, hört er manchmal von Freunden via Facebook. Doch das geht nicht – sie überschätzen ihn völlig. Krämers Leistungsskala liegt irgendwo unter Null. „Wenn ich 50 Meter stramm gehe, wird mir schlecht“, sagt er. Das kein Scherz. Zurzeit geht er schwimmen und spazieren. Anschließend oft zur Physiotherapeutin, weil seine Muskeln nach der Bewegung knochenhart sind. Er braucht dringend jemanden, der ihm sagt, was möglich ist.

Im nächsten Teil geht es darum, was ihm der Leistungstest bringt und wie er seinen Alltag langsam umorganisiert.

Teil 1 unserer Serie finden Sie hier.