Zugegeben, meine Ansprüche waren hoch. Es war mein erster Besuch im als Fahrradstadt bekannten Münster, und ich hatte erwartet, dass die Stadt hier den Radfahrern im übertragenen Sinn einen roten Teppich ausrollt. Den gibt es natürlich nicht. Aber dass die Radwege im Zentrum in der Regel nur unwesentlich breiter sind als ein Fahrradlenker und überwiegend auf Hochbordradwegen verlaufen, hat mich dann doch erstaunt.
Münster ist zweifelsohne Fahrradstadt. Aber eine, die Gefahr läuft, langfristig ihre Vorreiterrolle an Städte wie Freiburg oder Karlsruhe abzutreten.
Auffällig ist die Selbstverständlichkeit, mit der Radfahrer hier unterwegs sind. Menschen jeden Alters radeln hier auf ihren Wegen. „Radverkehr ist in Münster komplex, dicht und selbstverständlich“, hatte mir Stephan Böhme, der Fahrradbeauftragte der Stadt, vorab gesagt. Damit hat er recht.
Das Wegenetz ist durchgängig und erklärt sich von selbst. Man fährt intuitiv. Jeder noch so kleine Teilabschnitt ist für Radfahrer markiert. So lenkt beispielsweise beim Linksabbiegen eine gut markierte Velospur den Fahrer von einem abgesenkten Bordstein auf die Straßen zur Aufstellfläche vor der Ampel. Hier sind die Radfahrer im Blickfeld der Autofahrer und können auf einer eigenen schmalen Spur sicher links abbiegen, um dort zurück auf den Hochbordradweg zu gelangen.
Das ist komfortabel. Insbesondere, wenn man fast allein auf der Straße unterwegs ist wie mein Begleiter Achim Hennecke, Entwickler und Sprecher des Radroutenplaners Naviki, und ich. Mit zehn weiteren Radfahrern möchte ich mich allerdings nicht auf diesen Radwegen tummeln. Einander überholen ist vielerorts kaum möglich, ohne auf den Fußweg auszuweichen – und der ist ebenfalls sehr schmal.
Ausreichend Platz haben die Radfahrer in erster Linie auf der Promenade. Das ist eine etwa fünf Kilometer lange Ringstraße, die aus dem einstigen Befestigungsring um die Stadt entstanden ist. Sie umschließt die Altstadt. Aber ausgerechnet hier, wo Radfahrer wirklich schnell unterwegs sein könnten, müssen sie dauernd halten. Denn sie müssen Autofahrern auf kreuzenden Straßen Vorfahrt gewähren.
Das Münsteraner Radwegenetz ist über Jahrzehnte gewachsen. Hier haben die Menschen schon Radverkehr intelligent ins Verkehrsnetz integriert, als andere Städte ausschließlich für Autos planten. Der Bau vieler Anlagen liegt jedoch weit zurück, und das merkt man ihnen an.
Auf der anderen Seite sind in Münster immer wieder unkonventionelle Lösungen zu entdecken, die Radfahren leicht und sicher machen. Ein Beispiel dafür ist der Kreisverkehr am Ludgeriplatz. „Kreisverkehre sind eine tolle Sache, außer für Radfahrer“, sagt Böhme. Diese befinden sich in den Ein- und Ausfahrten extrem häufig im toten Winkel der Autofahrer. Deshalb wurden in Münster die Ein- und Ausfahrten mit einer Rüttelstrecke versehen. Das sind drei Zentimeter hohe Erhebungen auf der Straße, die den Radfahrer in die Fahrbahnmitte lotsen, vor die Pkw und Lkw. Sie sollen dort besser gesehen werden.
Des Weiteren führen Stoppschilder am Kreisverkehr dazu, dass Rad- und Autofahrer vor der Einfahrt halten müssen. Das verringere die Geschwindigkeit aller Verkehrsteilnehmer und erhöhe die Aufmerksamkeit und den gegenseitigen Respekt, sagt Böhme. Die Zahl der Unfälle habe sich an dieser Stelle halbiert.
Die hohe Unfallzahl ist Münsters Makel. Seit Jahren führt die westfälische Stadt die Unfallstatistik in Nordrhein-Westfalen an. Für die Polizei und Böhme ist der Fall klar: Das liegt an den Studenten. „Zweimal im Jahr steigt die Zahl der Unfälle an, und zwar immer zu Semesterbeginn“, sagt Böhme. Die Polizei reagiert mit Präventionsarbeit und massiver Präsenz in der Stadt.
Allein in den zwei, drei Stunden, in denen ich durch Münster radelte, habe ich drei Fahrrad-Polizisten gesehen. „Sie sind nicht nur präsent, sie greifen auch durch“, sagt mein Begleiter Hennecke.
Das zeigt Wirkung. Die Münsteraner Radfahrer halten sich an die Regeln. Fahren auf dem Fußweg oder auf dem Radweg der falschen Straßenseite, also als Geisterfahrer, ist die Ausnahme. Wer nachts ohne Licht unterwegs ist, werde sofort herausgewunken und müsse häufig auch pusten zwecks Alkoholtest, erklärt Achim Hennecke. Allein aus diesem Grund ist laut Böhme die Lichtquote in Münster mit 94 Prozent sehr hoch.
Nach Böhmes Informationen steigt der Radverkehr in Münster. Um den Anschluss nicht zu verpassen, muss die Stadt ihr Konzept erweitern. Etwa den Radverkehr auf die Straße verlegen. In den schmalen Straßen bleibt oft nur eine Möglichkeit: Parkplätze zu Fahrspuren machen. Das ist höchst unpopulär bei Politikern und Einzelhändlern. Aber manchmal sind die Bürger weiter als ihre Vertreter und ziehen eine gute Fahrradspur auf der Straße Parkplätzen vor.
Ob das auch in Münster der Fall ist, will Böhme im Frühjahr prüfen. Er plant ein Symposium mit Fahrradlobbyisten, Verbänden und Bürgern. Sie sollen in die neue Planung für den Radverkehr einbezogen werden. Ihre Ideen und Wünsche sollen sich im neuen Fahrradkonzept der Stadt widerspiegeln.
Sehr lesenswert ist Rasmus Richters Bericht über Münsters Radverkehr, der bereits 2012 im Weblog Zukunft und Mobilität hier erschienen ist.
In einer früheren Version wird die Rüttelstrecke am Ludgeriplatz als „Haifischzähne“ bezeichnet. Die gibt es in Münster an Kreisverkehren mit umlaufenden Radwegen.