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Über meinen Kopf bestimme ich selbst

 

Es war paradox: Die Radfahrerin traf keinerlei Schuld an dem Unfall – die Autofahrerin hatte plötzlich die Fahrertür aufgerissen, die Radlerin konnte nicht mehr ausweichen. Weil sie aber ohne Helm fuhr, wurde ihr ein Teil der Schuld an den Unfallfolgen aufgebürdet. Das entschied vor einem Jahr das Oberlandesgericht (OLG) Schleswig, ZEIT ONLINE berichtete hier. Am heutigen Dienstag hat der Bundesgerichtshof (BGH) das OLG-Urteil aufgehoben. Damit ist die Einführung der Helmpflicht durch die Hintertür erst mal vom Tisch (Aktenzeichen: VI ZR 281/13).

Damit folgen die Richter dem aktuellen Stand der Wissenschaft – und das ist gut so. Denn ob, wie und in welchem Umfang das Tragen eines Helms Sinn ergibt, ist wissenschaftlich noch gar nicht eindeutig bewiesen. Mehr noch, es ist ein leidiges Streitthema unter Wissenschaftlern. Gernot Sieg, Verkehrswissenschaftler an der Universität Münster, hat erst im Frühjahr mit seiner Studie Costs and benefits of a bicycle helmet law for Germany eine Untersuchung vorgelegt, die ausreichend Gründe gegen die Helmpflicht liefert: wirtschaftliche, gesundheits- und umweltpolitische. Ebenso gibt es aber Studien, die genau das Gegenteil schlüssig begründen.

Für manche ist es schwer auszuhalten, aber in der Debatte gibt es kein Falsch und Richtig, kein Schwarz und Weiß. Hier muss jeder für sich entscheiden und abweichende Meinungen akzeptieren.

Mit der Helmpflicht sank in Australien die Zahl der Radler

Zudem ist Helm nicht gleich Helm. Genügend Erwachsene wie Kinder tragen unwissentlich einen Kopfschutz, der eher eine Alibifunktion erfüllt. Viele Schalen sitzen schlecht, sind falsch eingestellt oder verstellt, so dass sie beim Sturz leicht verrutschen.

Hier sind bessere Modelle gefragt – und mehr Aufklärung ist vonnöten. Zurzeit tragen gerade mal 15 Prozent der Deutschen einen Helm, das Gros von 85 Prozent radelt oben ohne. In der Logik des OLG Schleswig galten sie allesamt als leichtsinnig und risikobereit: Sie würden das Gefahrenpotenzial nicht erkennen, das der Autoverkehr für sie darstellt. Diese Haltung ist borniert und engstirnig. Hier mangelt es an dem Blick über den Tellerrand, den der BGH offensichtlich pflegt.

Denn ein Blick in die Niederlande zeigt: In der erklärten Fahrradnation sind Helmträger Exoten. In den Augen der Niederländer ist der Straßenverkehr nicht über Gebühr gefährlich für Radfahrer. Sind unsere Nachbarn im Nordwesten also eine Nation von Draufgängern? Mitnichten. Auch sie legen Autogurte an, tragen Skihelme und einige auch Fahrradhelme. Letztere aber freiwillig. Und das ist schlussendlich entscheidend.

Das Tragen von Fahrradhelmen kann man nicht erzwingen, das zeigt die Realität. Australien hat 1991 die Helmpflicht eingeführt. Mit dem Erfolg, dass die Zahl der Radfahrer drastisch sank – zuvor gab es einen Fahrrradboom. Sein Revival steht bis heute aus.

Im Gegensatz zu ihren australischen Kollegen sehen deutsche Politiker keine Notwendigkeit für eine Helmpflicht. Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt hat das erst kürzlich bestätigt. Darum lohnt sich noch mal genau hinzusehen, wer hier klagte: Es war eine Versicherung, sie witterte die Chance, kräftig zu sparen. Fast muss man sich bei ihr bedanken. Schließlich hat der BGH mit dem heutigen Urteil die Hintertür zur Helmpflicht fest verrammelt. Die Radfahrer dürfen weiterhin selbst entscheiden, ob und was sie sich auf den Kopf setzen. Gut so!