In Aachen sei die Luft zu dreckig, titelte der WDR im Frühjahr auf seiner Webseite. Immer wieder liegt der Stickstoffdioxid-Wert in der Stadt 20 Prozent über dem zugelassenen EU-Grenzwert. Um ihn zu senken, muss Aachen dringend den Auto- und Lkw-Verkehr reduzieren. Dabei helfen soll langfristig das Projekt Velocity Aachen. Das ist ein ehrgeiziges flächendeckendes Pedelec-Verleihsystem, das Studenten entwickelt haben und das jetzt in die Testphase geht.
In den kommenden Jahren soll es in Aachens Stadtgebiet flächendeckend 1.000 Pedelecs an 100 Verleihstationen geben. Das heißt, bis zum nächsten Miet-Pedelec müssen die Besucher und Bewohner der Stadt maximal 300 Meter weit laufen.
Ähnlich dicht ist das Verleihsystem in Barcelona angelegt. Dort befindet sich im Stadtzentrum etwa alle 300 bis 400 Meter eine Bicing-Verleihstation. Das Netz aus 420 Stationen und 6.000 Rädern wurde dort gezielt aufgebaut, um den ÖPNV zu ergänzen. Im Vergleich: Hamburg hat mit 1,8 Millionen Menschen ähnlich viele Einwohner wie Barcelona (1,6 Millionen), aber nur 1.650 Räder an 123 Stationen.
In Aachen werden die ersten 25 Stationen laut Velocity Sprecher Julian Winking ab 2015 nach und nach aufgebaut. Bis dahin gibt es noch einiges zu tun. Schließlich entwickelt Velocity alles selbst. Von der Stange gibt es in ihrem Konzept so gut wie nichts.
Das beginnt bei den Pedelecs. Vor anderthalb Jahren erklärte Achim Kampker, Inhaber des Lehrstuhls für Produktionsmanagement am Werkzeugmaschinenlabor (WZL) der RWTH Aachen, in Aachen solle ein Kompetenzzentrum für die E-Rad-Entwicklung entstehen. Seitdem hat die RWTH beispielsweise die neuen Pedelecs der Post entwickelt. Jetzt konstruieren sie das Aachener Pedelecs.
Auch die Design-Studenten aus der Stadt sind im Netzwerk aktiv. Sie entwickeln die Gestalt des Rahmens, die Akkuverkleidung und auch die Transportmöglichkeiten. Nach den Vorstellungen der Studenten soll das Rad ein robustes Singlespeed-Pedelec werden, das sich gut fährt und auch gut aussieht.
Geht es nach den Studenten, werden die Räder auch im Winter durch die Stadt rollen. Vom aktuellen Stand der Technik betrachtet, ist das schwierig. Akkus verringern bei Minustemperaturen ihre Kapazität. Und die Pedelecs wären im Winter permanent draußen. Aber anscheinend haben die Aachener eine Lösung parat.
Erst Anfang des Monats hat die Nanyang Technological University in Singapur eine Neuentwicklung angekündigt, mit deren Hilfe sich Akkus, wie sie sagen, statt bislang etwa 1.000 Mal bis zu 10.000 Mal aufladen lassen sollen. Als Lebensdauer dieser Akkus nannten die Forscher einen Zeitraum von 20 Jahren. Außerdem soll sich der Ladevorgang auf wenige Minuten verkürzen. In zwei Jahren wollen sie den veränderten Akku auf den Markt bringen.
Das schnellste Fahrzeug in der Stadt
Das Aachener Konzept will mehr sein als ein bloßes Verleihsystem. Die Studenten verstehen Velocity Aachen als Mobilitätslösung der Zukunft, das Pedelec als gleichwertiges Verkehrsmittel im Modal Split, das die Verkehrssituation und die Luftqualität verbessern kann.
Momentan belasten Staus und Luftschadstoffe das Klima in Aachen. Aber Radfahren finden viele Bewohner und Touristen aufgrund der Topografie zu anstrengend. Pedelecs heben diesen Nachteil auf. Mehr noch. Laut einer internen Erhebung, für die die Studenten die Fahrzeiten von Auto, Bus, Bahn, Fahrrad, Pedelec und Fußgänger miteinander verglichen haben, ist das Pedelec auf fünf von acht Hauptrouten in der Stadt das schnellste Verkehrsmittel. Zudem liegt es dreimal auf den gewählten Routen von einer Länge von 1,7 bis 8,8 Kilometern auf Platz zwei.
Das passt zu den Nutzerprofilen von Bike-Sharing. Oft braucht man das Rad in der Stadt nur für eine kurze Strecke. In Barcelona enden 70 Prozent der Fahrten innerhalb von 15 Minuten und 91 Prozent innerhalb der kostenlosen ersten halben Stunde.
In den kommenden Monaten sind nun neben den Testfahrern vor allem die IT-Experten von Velocity gefragt. Schließlich soll das Pedelec-System mit den vorhandenen Angeboten wie Carsharing und ÖPNV gekoppelt werden. Die Idee von Velocity Aachen ist, dass ihr System den zukünftigen Nutzern stets die optimale Route mit dem optimalen Verkehrsmittel vorschlägt.
Unterstützt werden die Studenten vom Europäischen Netzwerk für bezahlbare und nachhaltige Elektromobilität e.V., dessen 1. Vorsitzender Achim Kampker ist, der außerdem der Vater des Streetscooters ist (ZEIT ONLINE berichtete). Desweiteren unterstützt die Stadt das Projekt.
Der Rat der Stadt hat Velocity Aachen einen Gründungszuschuss von 305.000 Euro bewilligt. Außerdem sind die Baugenehmigungen für die ersten Stellplätze bereits da. Jetzt müssen die Stromleitungen verlegt werden. So viel Rückenwind ist nicht selbstverständlich. Häufig ist es schwierig, sowohl Geld als auch öffentliche Flächen für so ein Vorhaben zu erhalten. Aber die Aachener Politiker sehen den ambitionierten Pedelec-Verleih als Chance, die Luftqualität in der Stadt zu verbessern und langfristig die Einführung einer Umweltzone zu verhindern.