Knapp 271 Kilometer zeigt die Navi-App am Sonntagmorgen um kurz vor halb acht am Lüneburger Bahnhof an. Mit einem S-Pedelec von Kalkhoff will ich an diesem Tag Richtung Berlin fahren. Der Akku ist aufgeladen, der Ersatzakku auf dem Gepäckträger festgezurrt. Ich freue mich auf einen Tag auf dem Rad. Es soll kalt werden, aber sonnig. Ich bin gespannt, wie weit der Strom für das Rad mit den zwei schweren Satteltaschen reicht und wie bereitwillig Gastronomen entlang meiner Strecke den Akku aufladen. Zur Frühstücks- und zur Mittagspause will ich jeweils Strom tanken. Wie weit ich komme beziehungsweise ob und wann ich in die Bahn einsteige, hängt maßgeblich davon ab, wie gut das klappt.
Die Straßen sind leer an diesem Morgen. Es dämmert und es ist kalt. In der Nacht hat es den ersten Frost gegeben. Ich lasse es langsam angehen. In der ersten Stufe namens Eco ist die Motorunterstützung kaum zu spüren. Im nächsten Modus, Sport, geht es zwar leichter, aber immerhin so anstrengend, dass mir beim Treten schnell warm wird. Der Tacho zeigt 28 km/h und gibt eine Reichweite über 100 Kilometer an. Nach wenigen Minuten liegt die Stadt hinter mir, und ich rolle auf der Landstraße dahin. Mein Tempo steigt.
Obwohl das S-Pedelec als Kleinkraftrad auf die Straße gehört und ich mit rund 35 km/h zügig unterwegs bin, hupt jeder zweite Autofahrer beim Überholen. Das ist anstrengend – und überflüssig, schließlich ist die Fahrbahn leer. Um diese Uhrzeit gibt es so gut wie keinen Gegenverkehr. Die Autos, die mich mit mehreren Minuten Abstand überholen, haben ausreichend Platz.
Um dem ständigen Gehupe zu entgehen, weiche ich zwischenzeitlich auf den Radweg aus, aber die Wegqualität ist hier spürbar schlechter. Auf der Fahrbahn werden die Unebenheiten ausgeglichen, der Radweg dagegen nimmt jeden kleinen Hügel mit. Der Weg folgt der Natur und schlängelt sich um Bäume wie um Ausfahrten zu Betriebs- und Wanderwegen. Diese Kurven sind zu eng für meine Geschwindigkeit. Schließlich kehre ich zurück auf die Straße.
Um viertel nach neun erreiche ich Dannenberg. Endlich Frühstück. Das erste Café, das ich ansteuere, öffnet jedoch erst um 11 Uhr, das zweite ebenso. Ein Hundebesitzer, den ich nach Alternativen frage, schüttelt lachend den Kopf. Er empfiehlt mir McDonald’s. Nicht mein Favorit, aber besser als nichts.
Der Strom im Akku reicht in diesem Moment noch für rund 60 Kilometer im Sport-Modus, eine Stufe höher im Power-Modus sind es noch 38 Kilometer. In dieser Einstellung war ich die letzten Kilometer gefahren, denn mit Sonnenaufgang kam nicht nur mehr Wärme, sondern auch Wind auf. Und der blies mir kräftig ins Gesicht.
An der Ausfallstraße sehe ich nun die rot-gelbe Werbung der amerikanischen Fastfoodkette. Ich schließe das Fahrrad mit zwei Schlössern am Ständer an. Den Akku nehme mit, schließlich braucht er Strom.
Die Kälte kostet Strom
Nach einigem Überlegen verspricht eine Mitarbeiterin, im Büro den Akku aufzuladen. Ich bin erleichtert und habe Zeit fürs Frühstück. Ohne McCafé ist das Angebot fürs Frühstück übersichtlich. Es bleibt das Rührei, eine Wahl, die ich später bereuen werde.
Gespannt nehme ich zwei Stunden später den Akku wieder in Empfang. Ich schließe ihn an und traue meinem Augen nicht: 38 Kilometer Reichweite zeigt das Display. Verflixt, da ist was schiefgegangen. Aber ärgern lohnt sich nicht. Stattdessen schließe ich den Ersatzakku an. Bei ihm hat allein die Kälte bereits Kapazität gekostet: Rund 90 Kilometer weit komme ich laut Anzeige im Modus Sport, sonst sind es mehr als 100. Ich fahre los. Nächstes Ziel: Havelberg, rund 80 Kilometer.
Über Gorleben geht es jetzt Richtung Gartow. Während ich gegessen hatte, hat der Wind ordentlich zugelegt. „Bei diesem Wind Richtung Osten fahren ist aber sportlich, auch mit Motor“, sagt ein Rennradfahrer bei einem kurzen Ampelplausch. Ich spüre es an der Geschwindigkeit. Bin ich vor der Pause durchschnittlich 30 bis 35 km/h schnell gefahren, liegt mein Schnitt jetzt etwa 5 km/h niedriger.
Der kalte Gegenwind ist ungemütlich, aber es macht dennoch Spaß, unterwegs zu sein. Ohne Motor wäre die Tour mit dem vollbepackten Rad ziemlich anstrengend. So bin ich zwar langsamer unterwegs als erwartet, aber die Geschwindigkeit ist immer noch ordentlich. Außerdem ist der Himmel blitzeblau und die Fahrbahn frei.
Rund um Gorleben stehen viele gelbe X-Kreuze auf den Feldern. Sie erinnern an die massiven Proteste gegen das Endlager im Salzstock und an die Castortransporte. Ein symbolischer Abgeordnetenfriedhof und übergroße gelbe Fässer mit dem Gefahrensysmbol säumen meinen Weg.
Ich erreiche Gartow und denke kurz darüber nach, anzuhalten. Anscheinend ist mir das Rührei nicht bekommen, mein Magen rebelliert. Aber ich bin erst eine Stunde unterwegs und möchte weiterfahren. Ein kurzer Stopp im Park und ein paar Schlucke Tee müssen reichen, und weiter geht’s nach Bömenzien. Das klingt klein und ist es auch.
Durch menschenleere Dörfer
Bisher war die Strecke ländlich, jetzt wird es einsam. Alte Grenztürme stehen dort, wo einst die innerdeutsche Grenze verlief. Jetzt lösen Plattenwege den Asphalt ab. Unglaublich, dass die Teilnehmer der Grenzsteintrophy – einer Selbstversorgerfahrt entlang der ehemaligen Grenze – teilweise tagelang auf diesem Untergrund unterwegs waren. Ich bin froh, dass mein Rad eine Federgabel hat. Meinem Magen gefällt die Ruckelei gar nicht.
Hinter Bömenzien lotst mich der Radroutenplaner Naviki mittlerweile über seltsame Umwege. Immer wieder will er mich auf Sandwege schicken, die direkt in den Wald führen. Sie sind aber offensichtlich nur für Reiter angelegt. Der Sand ist zu tief für Radfahrer. Hier käme ich nur auf einem Fatbike weiter.
Die kleinen Dörfer, die ich passiere, sind menschenleer. Nach einer Stunde hoffe ich auf ein Café, einen Kiosk oder wenigstens eine Tankstelle – doch Fehlanzeige. Es läuft noch nicht mal ein Hund über die Straße.
Ein paar Kilometer hinter Groß Garz fällt ohne Vorwarnung der Motor aus. Der Akku ist leer, obwohl er eben noch rund 30 Kilometer Reichweite im Power-Modus angezeigt hat. Na prima! Mittlerweile ringen das Ei und mein Magen vehement miteinander.
Mein Smartphone findet kein Netz, und die Offlinekarte hilft nur begrenzt – ich hatte vorab nur Karten in unmittelbarer Nähe der Route heruntergeladen. Die nächste größere Stadt auf meiner Route ist demnach Havelberg – und sie ist zweieinhalb Stunden entfernt. Wird der Wind wirklich immer stärker, oder bilde ich mir das nur ein? Neben mir krachen Äste auf die Straße, und Eicheln fallen von den Bäumen auf meinen Helm.
Ich wechsle den Akku und schalte auf Eco. 38 Kilometer weit soll ich damit noch kommen. Ungefähr so weit wie sein Vorgänger wenige Minuten zuvor. Die Entscheidung fällt leicht. Am nächsten Tag habe ich Termine in Berlin, dann muss ich fit sein. Also verlasse ich meine geplante Route – auf nach Wittenberge.
Eineinhalb Stunden später stehe ich dort am Bahnhof. Der Strom hat bis hierher gereicht. Und seit ich mich unterwegs von dem Ei getrennt habe, geht es mir wieder besser. Ich ziehe einen Fahrschein, der Zug wartet bereits. Im Radabteil ist noch Platz. Glück gehabt!