Freitagabend, 20 Uhr, Hamburg Zentrum. Es ist der letzte Freitag im Monat, Zeit für „Critical Mass“ in der Hansestadt: Jetzt gehört die Straße für ein paar Stunden den Radfahrern. Tut sie natürlich nicht, für mich fühlt es sich aber so an. Denn ich fahre mit Hunderten weiteren Velofahrern völlig unbehelligt über rote Ampeln oder durch Straßen und Tunnel, die sonst für Radfahrer gesperrt sind. Für Außenstehende sehen wir deshalb aus wie Demonstranten. Sind wir aber nicht, und das ist den Mitfahrern wichtig.
Critical Mass heißt übersetzt kritische Masse. Die ist erreicht, sobald 16 Radfahrer gemeinsam unterwegs sind. Dann dürfen sie zu zweit nebeneinander als Kolonne auf der Straße fahren, selbst wenn parallel ein Radweg verläuft. Die Anführer beachten die Verkehrsregeln, das Gefolge radelt hinterher – selbst wenn die Ampel auf rot springt. Das ist laut Straßenverkehrsordnung erlaubt und sogar gewollt, um den Verband nicht zu zerreißen. Grundlage ist Paragraf 27 StVO:
§ 27 Verbände
(1) Für geschlossene Verbände gelten die für den gesamten Fahrverkehr einheitlich bestehenden Verkehrsregeln und Anordnungen sinngemäß. Mehr als 15 Radfahrer dürfen einen geschlossenen Verband bilden. Dann dürfen sie zu zweit nebeneinander auf der Fahrbahn fahren. (…)
(2) Geschlossene Verbände (…) müssen, wenn ihre Länge dies erfordert, in angemessenen Abständen Zwischenräume für den übrigen Verkehr frei lassen; an anderen Stellen darf dieser sie nicht unterbrechen.
(3) Geschlossen ist ein Verband, wenn er für andere Verkehrsteilnehmer als solcher deutlich erkennbar ist.
Eine Kolonne von Fahrzeugen gilt verkehrsrechtlich als ein Fahrzeug. So dürfen beispielsweise alle Fahrzeuge einer Kolonne eine Ampelkreuzung auch bei rotem Ampelsignal passieren, sofern das erste Fahrzeug die Ampel bei Grün passiert hat.
Das ärgert an diesem Abend einige Autofahrer. Denn am Heiligengeistfeld nahe St. Pauli sind Hunderte Radfahrer gemeinsam gestartet.
Wer mitfährt, merkt schnell: Auf der Strecke stoßen weitere Radler dazu, es werden immer mehr. Beim letzten Mal sollen es 2.000 gewesen sein. Die Polizei konnte das nicht bestätigen. Sie sagt nur: Es werden immer mehr.
Die Gruppe zeigt einen recht realistischen Querschnitt der Menschen, die täglich in der Hansestadt unterwegs sind. Ein paar Kinder radeln mit, viele Alltagsfahrer sind dabei, Leute auf Reiserädern, andere auf alten Klapperkisten, Einrad-, Hochrad-, Tandemfahrer und ein paar auf schnellen Rennern.
Einer hat Musik dabei, ein paar haben eine Flasche Bier in der Hand. Viele sind verkleidet. Denn auf Facebook war die Ausfahrt als „spooky critical halloween horror mass“ angekündigt. Das Feld ist riesig. Die Autofahrer müssen warten, fünf Minuten, zehn, manche noch länger.
Ein paar Kfz-Fahrer schimpfen laut, andere versuchen aus Seitenstraßen in die Kolonne hineinzurollen. Aber das sind Ausnahmen. Mindestens ebenso viele winken freundlich. Es ist ein friedliches Dahinradeln. Das verdanken wir im Mittelfeld den Fahrern an der Spitze.
„Vorne passen ein paar Leute auf, dass man sich an die Verkehrsregeln hält“, hatte Malte Hübner vor dem Start gesagt. Der Informatikstudent ist einer der wenigen realen Personen, die man mit Critical Mass Hamburg in Verbindung bringen kann. Er dokumentiert alles, aber organisiert nichts, darauf legt er Wert. Seit etwa einem Jahr fährt er mit. Er fotografiert und filmt und stellt alles auf die Critical Mass Homepage, die er mit ein paar anderen betreut. Denjenigen, der via Facebook den Treffpunkt bekannt gibt, kenne er nicht. Er kopiere nur den Treffpunkt auf die Website.
Bei seiner ersten „Critical Mass“ in Hamburg hatte sich Hübner noch geärgert. Einige Teilnehmer hatten sich nicht an die Verkehrsregeln gehalten und haben Einbahnstraßen in die verkehrte Richtung befahren. Das komme heute kaum noch vor – und wenn, dann weise die Gemeinschaft die Leute umgehend zurecht, sagt er.
Wer an diesem Abend mitfährt, glaubt ihm das sofort. Zwar gibt es offiziell keine Organisatoren, dafür gibt es wechselnde Fahrer, die sofort die Initiative ergreifen, wenn es kniffelig wird. Sie sperren mit ihren Rädern Seitenstraßen und Kreuzungen ab, damit der Tross ungehindert passieren kann und beschwichtigen Autofahrer.
Für Hübner ist klar: „Wer hier mitfährt, gibt ein Statement ab.“ Die Fahrer wollen als gleichberechtigte Verkehrsteilnehmer wahrgenommen werden. „Wir blockieren nicht den Verkehr, wir sind der Verkehr“ – das ist das Mantra der „Critical-Mass“-Bewegung. Es ist so alt wie „Critical Mass“ selbst. Im September hat die Bewegung in San Francisco ihren 20. Geburtstag gefeiert. Tausende von Radfahrern waren auf den Straßen.
Für viele Teilnehmer ist „Critical Mass“ ein Happening. Aber eigentlich ist es bitter. Denn es zeigt, wie wenig im Bereich der Radverkehrsförderung passiert und dass der Bedarf seit Jahrzehnten besteht. Das ist in San Francisco ebenso der Fall wie in Hamburg und in vielen anderen deutschen Städten.
„Critical Mass“ ist eine der wenigen Möglichkeiten, die Radfahrer überhaupt haben, um ihre Position zu zeigen. Und ihre Aussage ist deutlich: Wir sind viele, wir werden mehr und erwarten mehr Aufmerksamkeit. Heute ist es via Facebook und Twitter einfacher als vor 20 Jahren, Radfahrer zu mobilisieren. „Critical Mass“ gibt es zum Beispiel auch in Berlin, Köln und Stuttgart. Trotzdem ist Hamburg in Deutschland eine Ausnahme. So viele Teilnehmer wie in der Hansestadt gibt es hierzulande zurzeit in keiner anderen Stadt bei „Critical Mass“. Schade eigentlich.