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Eine Deutsche begeistert Chinesen fürs Fixie

Ines Brunn in ihren Fahrradladen © Matjaz Tancic
Ines Brunn in ihren Fahrradladen © Matjaz Tancic

Ines Brunn hätte es einfacher haben können. Als Physikerin hatte sie in Peking einen angesehen und gut bezahlten Job in einem Telekommunikationskonzern. Aber dann beobachtete sie, wie vor ein paar Jahren jeden Monat Radwege in der einstigen Fahrrad-Hauptstadt Peking in Autospuren umgewandelt wurden. Brunn wollte die Zerstörung der fahrradfreundlichen Stadt stoppen und eröffnete in Peking einen Fixed Gear Shop. Sie selbst fährt seit ihrer Kindheit Kunstrad. Früh brach sie mit den starren Regeln des Sports, studierte sehr akrobatische Choreographien ein. Damit ist sie weltweit bekannt geworden und wird heute international engagiert. Radfahren bedeutet ihr immer noch viel. Im Alltag fährt sie am liebsten Fixed Gear (also mit starrem Gang und ohne Freilauf).

Der Schritt raus aus dem sicheren Job rein in die Existenzgründung mit einem Fixie-Shop war insofern ein Schritt, sich wieder mit dem Thema zu beschäftigten, für das sie brennt. Aber es war auch ein Schritt gegen den Mobilitätstrend. Denn 2008 wurden in dem einstigen Fahrradparadies jeden Tag 1.500 neue Autos zugelassen, ein Jahr später waren es schon doppelt so viele. Das kam nicht von ungefähr. Die chinesische Regierung hatte ähnlich wie Deutschland den Autokauf gefördert. Wer sich einen Kleinwagen anschaffte, wurde in der Zeit der weltweiten Wirtschaftskrise mit Prämien und einen Steuernachlass belohnt. „Ich war zehn Tage im Urlaub und anschließend waren 30.000 mehr Autos auf den Straßen. Das spürte man deutlich“, sagt Ines Brunn. Und mit dem Mehr an Autos sank die Zahl der Radfahrer.

Um den Chinesen die Lust am Radfahren wieder näherzubringen, organisierte Brunn zunächst Ausfahrten mit dem Fahrrad. Ihre ausländischen Freunde kamen. Die chinesischen blieben weg. „Glaubst du wirklich, ich bin so arm?“, fragten sie die Deutsche empört, wenn diese sie aufs Radfahren ansprach. „Das Fahrrad ist in China verpönt“, sagt Brunn, „es gilt als das Verkehrsmittel der Armen.“ Dass die Deutsche selbst zu jeder Verabredung mit dem Rad erschien, sahen ihre chinesischen Freunde oft nicht.

„Wenn du etwas ändern willst, musst du einen Fahrradladen aufmachen“, hatte ihr im Sommer 2008 ein guter Freund geraten.© Ines Brunn

© Ines Brunn

Acht Monate hatte sie damals Fixed-Gear-Fahrer gesucht, um mit ihnen durch Peking zu radeln. Mit Hilfe von herkömmlichen Fahrradshop-Betreibern konnte sie fünf aufspüren. Zwei von ihnen hatte sie selbst auf der Straße angesprochen. Sie glaubt, dass es damals auch nur diese fünf Fixed-Gear-Fahrer in der Elf-Millionen-Einwohner-Stadt gab. Einen Shop, der diese Räder verkaufte, den gab es freilich gar nicht.

Je länger sie über den Vorschlag nachdachte, umso einleuchtender fand sie ihn. Für Außenstehende wollte sie das Unmögliche: Chinesen fürs Radfahren begeistern, ihnen Fahrräder verkaufen, die sie cool fanden. Das war damals ein Widerspruch in sich. Aber das war es, was die Deutsche wirklich wollte. Sie kündigte ihren Job und eröffnete ein paar Monate später ihren Fixed Gear Shop „Natooke“.

Der Anfang war zäh. „Die Ausländer waren zwar begeistert“, erinnert sie sich, „aber die Chinesen blieben weg.“ Ab und an verliefen sich einheimische Passanten in den Laden mit den bunten Rahmen und Laufrädern. Aber wenn sie hörten, dass sie nur Fahrräder verkaufte, machten sie auf dem Absatz kehrt. Ihre fünf Fixed-Gear-Fahrer konnten ein paar Freunde animieren, bei ihr Fahrräder zu kaufen, ansonsten lief der Verkauf eher schleppend an.

 © Ines Brunn
© Ines Brunn

Der Imagewandel

Das änderte sich im Sommer 2009. Damals veröffentlichte das Mode-Magazin iLook ein Interview mit ihr. iLook ist laut Brunn ein Trendsetter für Peking. Im Folgejahr zogen weitere Mode-Magazine nach und 2011 posierten die ersten Models für die Fotostrecken bereits mit Fixies. Seitdem werden es immer mehr.

Etwa zu dieser Zeit griff auch die Politik das Thema nachhaltiger Verkehr auf. Der zentrale TV-Sender zeigte ein bis zwei Minuten dauernde Fernsehspots, die die Verkehrsprobleme und die Luftverschmutzung in chinesischen Städten thematisierten. Der neue Kurs sah vor, die Menschen wieder dazu zu ermutigen, der Umwelt zuliebe aufs Fahrrad zu steigen. Auch Ines Brunn wirkte in einem dieser Spots mit.

Und sie ließ nicht locker. Sie wollte die junge Generation erreichen, bei der besonders große und teure Autos beliebt sind. Aber auch Fixies haben ein cooles Image. Und so baute die Deutsche mit einem Freund in einer angesagten Bar zwei Fixies auf und ließ die Gäste auf den Rädern gegeneinander antreten. Die Marketingaktion hatte Erfolg: Die bunten Räder waren nicht nur ein Blickfang, sondern die Gäste kamen auf den Geschmack. „Beim dritten Mal war die Bar gerammelt voll und die Chinesen, die mitmachten, waren alle sehr stolz“, sagt Brunn.

Freitagabends organisiert sie seither regelmäßig einen light ride. Eine entspannte Ausfahrt, um mit dem Irrglauben aufzuräumen, Radfahrer seien langsam. „Chinesen glauben, wenn man mit dem Auto eine Stunde Fahrzeit braucht, sei man mit dem Fahrrad dreimal so lange unterwegs“, sagt Brunn. Tatsächlich lag die gemessene Durchschnittsgeschwindigkeit in Peking im vergangenen Jahr bei etwa 19 km/h. Bei freier Fahrt kann ein Fixie dagegen gut und gerne 30 km/h erreichen – und wenn die Straßen frei sind, dann ist man auf dem Rad tatsächlich beweglicher und schneller.

In letzter Zeit beginnt ein Sinneswandel. China ist wieder fahrradaffiner geworden. „Mittlerweile gibt es etwa 50 Fixed-Gear-Läden in Peking“, sagt Ines Brunn. „Sie sprießen in ganz China wie Pilze aus dem Boden.“ Viele versuchen das schnelle Geld zu machen, aber für viele ist es ebenso wie für die Deutsche ein Lebensgefühl. Außerdem organisieren Fahrrad-Fans in verschiedenen Stadtteilen gemeinsame Ausfahrten, die gut besucht werden.

Wenn Ines Brunn heute in Peking auswärts isst, schnappt sie regelmäßig Gesprächsfetzen auf, in denen es ums Fahrrad geht. „Das macht mich sehr glücklich, sagt sie. Insbesondere weil das Fahrrad als Verkehrsmittel vor sieben Jahren noch ein absolutes Tabuthema war.“

 

Bike-Sharing ist ein Zukunftsmarkt

In Zukunft werden nicht nur Autos und Parkplätze, sondern auch Fahrräder geteilt. Dieser Markt bietet viel Wachstumspotenzial, das stellen die Verfasser der Roland-Berger-Marktstudie „Shared Mobility“ fest und rechnen bis 2020 mit jährlichen Zuwachsraten beim Bike-Sharing von 20 Prozent.

Das Fahrrad zu teilen – solche Systeme gibt es in einigen Städten heute bereits. In Aachen soll im Herbst „Velocity Aachen“ starten. Das Ziel ist es, dort ein Pedelec-Verleihsystem mit 1000 Pedelecs an 100 Stationen zu installieren. In den kommenden Wochen beginnt die Testphase mit ausgewählten Nutzern und vier Stationen.

Die Autoren der Berger-Studie sehen vier Trends, die dafür sorgen, dass die Menschen ihr Verhaltensmuster ändern: Ressourcenknappheit, Konsumkultur, Digitalisierung und Demografie.

Deutschland ist ein rohstoffarmes Land. Hier wie in anderen Ländern werden die knapper werdenden Rohstoffe die Energiepreise in den kommenden Jahren weiter in die Höhe treiben und so die Nachfrage nach effizienten und kostengünstigen Mobilitätsdienstleistungen und Technologien weiter steigern. Und in Zukunft werden noch mehr Menschen in Städten leben. Aber hier fehlt nicht nur der Raum, um die Verkehrsinfrastrukturen wesentlich zu erweitern, sondern auch das Geld, um in neue und teure Infrastrukturen zu investieren. Und auch vielen Privathaushalten fehlt das Geld, da die Finanzkrise das Wirtschaftswachstum spürbar verlangsamt hat. Vor diesem Hintergrund wird laut der Roland-Berger-Studie die Praxis des Teilens von Dingen ein fester Bestandteil der wirtschaftlichen Gleichung werden.

Wandel der Konsumkultur

Bereits heute können sich in der industrialisierten Welt laut den Verfassern der Studie fast 60 Prozent der Autobesitzer vorstellen, ein Fahrzeug zu teilen. Das heißt nicht, dass die Menschen grundsätzlich weniger Auto fahren. Sie wollen es nur nicht mehr besitzen. Sie nutzen lieber die Dienste wie Car-Sharing oder Nachbarschaftsauto.

Bike-Sharing ist im Vergleich zu Car-Sharing noch eine recht junge Entwicklung. Es gab ein paar Versuche mit freien Systemen im vergangenen Jahrhundert, die aber alle recht schnell scheiterten, weil viele Räder gestohlen wurden. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts breitet sich das Konzept in Deutschland über große Anbieter wie die Deutsche Bahn und Nextbike zügig aus. Der Markt ist aber noch ausbaufähig, in Europa und in den USA. 2007 wurden in den Vereinigten Staaten die ersten Leihstationen eingeführt. Mittlerweile kann man sich in über 30 Städten Räder leihen, weitere sollen folgen. Allein in Chicago registrieren die Betreiber von Divy Bikes in diesem Jahr jeden Monat mehr als 100 Neuanmeldungen.

Digitalisierung

Wichtige Impulsgeber beim Fahrradverleih sind die vielen Innovationen im Bereich der Kommunikationstechnologie. Neben dem organisierten Verleih, der dadurch einfacher wird, wird sich laut der Studie auch ein Markt an privaten Fahrrad-Verleihern entwickeln, die ähnlich der Schlafmöglichkeiten beim Coach-Surfing, Fremden ihre privaten Räder zur Verfügung stellen.

Neue Technologien machen das erst möglich, etwa das elektronisch Fahrradschloss Bitlock, das übers Smartphone bedient wird. Mithilfe der dazugehörigen App kann der Besitzer Freunden und Bekannten erlauben, sein Fahrrad zu nutzen. Über die App kann er auch definieren, wo sie das Rad wieder abstellen müssen. Auf diese Weise kann jeder Fahrradbesitzer eine Art privaten Fahrradverleih oder Bikesharing einrichten.

Der Hintergedanke für Hersteller wie Bitlock war, dass ein Verkehrsmittel über viele Stunden ungenutzt in der Stadt parkt. „Städte investieren Millionen Dollar in Bikesharing-Systeme mit Stationen, dabei sind so viele andere Fahrräder an normalen Ständern auf der Straße angeschlossen“, sagte Bitlock-Gründer Mehrdad Majzoobi dem US-IT-Nachrichtenangebot Cnet . „Warum können wir nicht einfach irgendwo ein Rad schnappen und damit losfahren?“

Demographie

Bereits heute lebt mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten. Experten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) erwarten, dass 2050 zwei Drittel aller Menschen in Städten leben. Gefragt sind laut der Studie deshalb intelligente, kohlenstoffarme Mobilitätslösungen. Gerade im Hinblick auf die wachsende Zahl der Ein-Personenhaushalte und die höhere Lebenserwartung wird nach Meinung der Experten die Nachfrage nach individuellen Mobilitätsdienstleistungen weiter steigen.

Wir befinden uns also mitten in der Entwicklung, die die Studie beschreibt. Ein häufiger Trugschluss ist, dass das Teilen von Fahrzeugen Verzicht bedeutet. Dabei ist insbesondere in der Großstadt meistens genau das Gegenteil der Fall.

 

Mit dem geliehenen Tallbike zur Critical Mass

© Manuel Wagner
© Manuel Wagner

Bei vielen Radfahrern in Deutschland steht einmal im Monat an einem Abend „Critical Mass“ im Kalender. In mehr als 40 Städten machen sie sich dann auf den Weg zu einem kurzfristig bekannt gegebenen Treffpunkt, um für ein paar Stunden im lockeren Korso durch die Stadt zu fahren. Sie wollen damit mehr Platz auf den Straßen einfordern, vor allem eine bessere Infrastruktur.

In Stuttgart sind stets auch die Organisatoren von Technik und Solidarität e.V. – Fahrräder für Afrika dabei. Sie bieten zur Critical Mass Touristen und alteingesessenen Stuttgartern an, auf Tallbikes mitfahren – das sind Radriesen aus zwei aufeinander geschweißten Rahmen. Der Verein nennt den Radspaziergang auf den ungewohnt hohen Rädern Arttour: Es geht eher darum, die Perspektive zu wechseln und die Stadt von einem ungewohnten Standpunkt zu erleben.

Bei der August-Tour ist Robin Bischoff spontan mitgefahren. Er arbeitet in der Nähe der Wagenhallen beim Stuttgarter Nordbahnhof, wo Technik und Solidarität e.V. sitzt. Dort hatte Bischoff die Teilnehmer beim Üben im Hof gesehen. Er hatte Zeit und hat das Fahren auf einem Tallbike selbst ausprobiert. Nachdem er das Auf- und Absteigen eine Weile im Hof trainiert hat, ist er mitgefahren.

© Manuel Wagner
© Manuel Wagner

„Anfangs war es ein bisschen schwierig“, sagt Bischoff. Er beschreibt das Aufsteigen so: Man setzt einen Fuß auf die Pedale, setzt das Rad in Bewegung und stößt sich dann mit Schwung in den Sattel. Das erfordert Mut. Wenn das Tallbike erst mal rollt, fahre es sich wie ein normales Fahrrad. Nur Stopps liefen anders, erklärt Bischoff: „Man befindet sich auf der Höhe der Ampellichter und hält sich an Verkehrsschildern fest.“

Tallbiker sind in exponierter Position und werden häufig angesprochen. Mütter mit ihren Kindern und Menschen auf Balkonen winken einem zu, und man winkt zurück. „Man wird automatisch ein bisschen zum Clown“, sagt Bischoff.

Bischoff ist im August das erste Mal bei der Critical Mass in Stuttgart mitgefahren, in der baden-württembergischen Hauptstadt findet der Fahrrad-Korso am ersten Freitag eines Monats statt. Anders als in anderen Städten ist er dort eine angemeldete Veranstaltung. Critical Mass Stuttgart beginnt um 18.30 Uhr am Feuerseeplatz und wird von der Polizei durch die Stadt eskortiert. Am heutigen Abend endet sie im Hof von Technik und Solidarität e.V. – Fahrräder für Afrika.

Die Arttour ist nur eines der vielen Projekte des Vereins. In erster Linie sammeln die 15 ehrenamtlichen Mitglieder alte oder nicht genutzte Fahrräder. Jedes Jahr schicken sie einen Container mit rund 2.000 Fahrrädern und Ersatzteilen nach Ghana und Burkina Faso. Vor Ort arbeitet der Verein mit lokalen Organisationen zusammen, die die Räder verteilen. Viele werden an Kinder vergeben, damit sie den weiten Schulweg überhaupt bewältigen können.

„Accra, die Hauptstadt Ghanas, hat große Verkehrsprobleme“, sagt Clemens Rudolf von Technik und Solidarität e.V. Stundenlang stünden die Autofahrer dort zu den Stoßzeiten im Stau – mit dem Fahrrad würde es viel schneller gehen. Rudolf lacht und sagt: „Im Grunde ist es in Accra wie in Stuttgart.“ Der Unterschied: „In Stuttgart stehen die Autos geordnet in einer Reihe.“