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Wahlprognosen

Wir wären uns gerne nicht so sicher

 

Die Experten der neuen ZEIT-ONLINE-Serie (von links nach rechts): Gerd Bosbach, Esra Kücük, Hans-Hermann Langguth, Jutta Allmendinger, Philipp Gassert

Wahlentscheidungen haben uns in letzter Zeit öfter überrascht. Dass sich die Briten aus Europa herauswählen würden, hatten auch führende britische Experten nicht erwartet. Dass der neue US-Präsident Donald Trump heißen wird, wollten auch herausragende US-Analysten bis zuletzt nicht glauben. Auch das Ergebnis der Präsidentenwahl in Frankreich hatten Kenner lange nicht für denkbar gehalten.

Was können wir daraus für Deutschland lernen, das doch ganz anders ist als Großbritannien, die USA oder Frankreich? Zumindest dies: dass es nicht schaden kann, alten Gewissheiten zu misstrauen. Gewiss scheint rund vier Wochen vor der Wahl: Die nächste Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland heißt Angela Merkel. Gewiss scheint auch: Die AfD wird kein zweistelliges Ergebnis erreichen. Doch es sind eben noch fast vier Wochen bis zur Wahl. Vielleicht kommt ja doch alles anders. Wir wären uns gerne nicht so sicher.

Deshalb schreiben ab heute bis zum 24. September fünf Experten zum Wahlgeschehen, die allesamt eines verbindet: Sie sind skeptisch gegenüber verfrühten Prognosen, mitunter auch gegenüber Prognosen an sich.

Die Soziologin Jutta Allmendinger weiß, wie komplex die soziodemografischen Faktoren und volatilen Motive sind, die Menschen am Ende Entscheidungen treffen lassen – mithin auch an der Wahlurne.

Der Statistiker Gerd Bosbach hat Jahre seines Lebens damit verbracht, die wacklige Methodik von Wahlumfragen offenzulegen und zu kritisieren.

Die Sozialwissenschaftlerin Esra Küçük weiß als Direktoriumsmitglied am Gorki-Theater um die emotionalen Dynamiken, die politische Trends zum Kippen bringen können.

Der Zeithistoriker Philipp Gassert kennt genug Beispiele jüngster bundesdeutscher Geschichte, bei denen externe Schocks Wahlen plötzlich gedreht haben.

Der ehemalige Vizeregierungssprecher Hans-Hermann Langguth hat selbst als Wahlkämpfer erlebt, wie Politiker wie Gerhard Schröder und Joschka Fischer verloren geglaubte Wahlkämpfe drehen konnten.

Und dann ist da noch die Sache mit dem Fisch.

In unseren Redaktionsräumen wird ab heute ein siamesischer Kampffisch täglich die Kanzlerfrage beantworten. Dieses Fisch-Orakel folgt einer langen Tradition, die bis in die Antike zurückreicht. Es soll uns bis zum Wahlabend daran erinnern, dass wir die Zukunft vielleicht nicht viel besser kennen als ein Fisch.

P.S.: Wie funktioniert das Fisch-Orakel? In einem symmetrisch eingerichteten Becken wird unser Wahlkampffisch durch sein Schwimmverhalten bis zur Bundestagswahl jeden Tag signalisieren, ob er Martin Schulz oder Angela Merkel mehr Chancen einräumt. Verbringt er im Prognosezeitraum eines Tages mehr Zeit auf der Schulz-Seite (die Seiten werden täglich getauscht), verrechnen wir einen Punkt für den Kandidaten Schulz und umgekehrt. Am 24. September wird abgerechnet.


Hier twittert der Fisch seine Prognosen. Auf dem Facebookaccount von ZEIT ONLINE können Sie den Fisch gelegentlich im Livestream sehen. Und der Biologe Stefan Karl Hetz erklärt, was es mit dem Fisch auf sich hat und was man tun sollte, damit es einem Fisch gut geht.

20 Kommentare

  1.   sven.linscheid

    Vielleicht sollte man mal die ganzen Prognosen ignorieren und stattdessen lieber den Menschen mitteilen, welche Ziele Parteien verfolgen. Danach kann man ja dann entscheiden.

  2.   عاقل

    Die Angst vor einer historisch niedrigen Wahlbeteiligung scheint ja erheblich zu sein.“Geh‘ wählen, damit die AfD nicht zweistellig wird“ ist jetzt so ein Leckerli, das angeboten wird.

    Dabei ist eine niedrige Wahlbeteiligung eigentlich ziemlich genau das, was unsere 100%-repräsentative Protodemokratie, bar aller direktdemokratischen Elemente auf Bundesebene, verdient und auch generiert. Die Freiheit, immer mal wieder andere Personalien oder Parteien mit der immer gleichen Politik beauftragen zu dürfen, bleibt absolut defizitär.

  3.   Knolli123

    Also ich habe schon gewählt, und meine Entscheidung stand schon sehr lange fest. Vermutlich geht es sehr vielen so wie mir. Dass Journalisten, Soziologen oder Politiker sich nicht mehr so sicher sein sollten finde ich begrüßenswert.
    Und ja, ich glaube wir werden am 24.9.ab 18:00 Uhr alle überrascht sein – positiv wie negativ.

  4.   MaryPoppinsky

    Die Umfrage-Institute, die kurz vor der Bundestagswahl noch veröffentlicht haben, haben nahezu durchwegs gut prognostiziert.

    Die Abweichungen zu den tatsächlichen Ergebnissen waren gering. Hier die Spannbreite der Abweichungen:

    Allenbach: 0,2 bis 2 Prozentpunkte (5x unter einem Prozentpunkt)
    Emnid: 0,3 bis 2,5 Prozentpunkte (5x unter einem Prozentpunkt)
    Forsa: 0,2 bis 1,6 Prozentpunkte (4x unter einem Prozentpunkt)*
    Forschungsgruppe Wahlen: 0,1 bis 1,5 Prozentpunkte (4x unter einem Prozentpunkt)*
    INSA: 0,2 bis 3,5 Prozentpunkte (5x unter einem Prozentpunkt)

    * jeweils ein Wert weniger ausgewiesen (Piraten zuletzt nicht berücksichtigt)

    Das kann sich sehen lassen. Zumal alle Werte – bis auf einen bei INSA – innerhalb der Toleranz lagen.

  5.   G.J.Bouwhuis

    Einen Fisch… Wie dumm kann es gemacht werden. Schrecklich!

  6.   Thür

    Wäre es nicht einmal eine Option in einer Art Selbstbeschränkung der Meinungsforschungsinstitute alle Wahlumfragen, die einen festen Prozentwert in der Wahlprognose enthalten nicht durchzuführen. Viele Menschen werden hierdurch indirekt beeinflusst und verbinden die Prognose mit dem wahrscheinlichen Ergebnis, was die Spannung vermindert und einige sogar abhält zu wählen, weil sie glauben alles sei schon gelaufen und die eigene Stimme sei ja dann nicht mehr entscheidend für das Wahlergebnis.

  7.   leser500

    Kann mir mal einer erklären, warum die Presse sich vordringlich dafür interessiert, wer die Wahl gewinnt, und dafür allerhand „Experten“ befragt? Sollte man das Ergebnis nicht den Wählern überlassen, und sich vorher um die Inhalte und die Kandidaten kümmern?

    Mir geht es gehörig auf die Nerven (nicht nur bei Wahlen), dass die Presse zunehmend versucht, die Zukunft vorherzusagen, anstatt über Gewesenes zu berichten, zu kommentieren und Zusammenhänge herzustellen.

    Was man alles lesen muss: wie die Bundesligasaison verlaufen wird, wie dieses und jenes nach Auskunft von „Experten“, gerne auch „Zukunftsforschern“, sich entwickeln wird… ausser beim Wetter sehe ich Vorhersagen nicht veranlasst, und diese Ergüsse beleidigen grösstenteils den Verstand.

  8.   alfrei

    Stellen sie eine Angel und eine Pfanne neben das eingerichtete Becken, damit der Fisch weiß was ihm blüht, wenn er in die falsche Richtung schwimmt.

  9.   romanschiller

    Die nur scheinbar verdeckte Wahlwerbung der ZEIT für links von der Mitte finde ich allmählich nervig und treibt mich zunehmend weg. Schade! Ein einst großes Blatt verrät seine Idee.

  10.   GileraB300

    Merkel hat am 25.02.2008 in aller Öffentlichkeit gesagt: „Man kann sich nicht darauf verlassen, daß das, was vor den Wahlen gesagt wird, auch wirklich nach den Wahlen gilt“
    Das ist Lügen mit Ansage. Was kann man Merkel noch glauben?
    Da glaube ich eher noch der AfD, die ja gezielt schlecht geschrieben wird. Auch von der Zeit. Die Presse sollte darüber berichten, was geschehen ist und nicht versuchen, durch entsprechende Kommentare und Berichte, das künftige Geschehen zu beeinflussen.

 

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