Wie die meisten Redaktionen der Welt hat ZEIT ONLINE täglich mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu tun. Forscher helfen uns mit Fachwissen, sind Interviewpartner, beraten bei schwierigen Recherchen. Eher selten ist der umgekehrte Fall: dass Wissenschaftler unsere journalistischen Recherchen für ihre Forschung verwenden. Genau das ist aber im vergangenen Jahr so häufig geschehen, dass wir Ihnen davon berichten wollen.
Im Mai 2019 veröffentlichte ZEIT ONLINE die Datenrecherche Die Millionen, die gingen. In dem Artikel ging es um die Millionen Menschen, die Ostdeutschland nach dem Mauerfall verlassen hatten. Uns interessierte, wohin diese Menschen gegangen waren und woher sie kamen. Umzüge sind in Deutschland generell gut dokumentiert, gesammelt werden die Informationen vom Statistischen Bundesamt in Wiesbaden. Wir wollten jeden der Umzüge zwischen 1991 und 2017 auswerten und daraus eine Karte der Ost-West-Migration erstellen.
Das Statistikamt schickte uns die Daten im Herbst 2018 – 288 Excel-Tabellen auf drei CDs. Zuerst mussten wir die vielen Dateien vereinheitlichen. Die Statistiker hatten die Umzüge auf Ebene der Stadt- und Landkreise erfasst. Der Zuschnitt dieser Kreise hatte sich in den vergangenen Jahrzehnten aber gleich mehrfach geändert. Um die Daten vergleichbar zu machen, mussten wir die Millionen Datenpunkte aufwendig umrechnen. Die Muster und Ergebnisse, die wir schließlich im Datensatz fanden, legten wir noch einmal Wissenschaftlern und Kreisämtern vor, um sicherzugehen, dass wir richtig lagen. Am Ende floss alles in eine Datenbank, in der wir recherchieren konnten. Dort hinterlegten wir auch das Einkommen, das Geschlechterverhältnis oder das Wahlverhalten. So konnten wir zeigen, dass Regionen mit dem stärksten Wegzug heute anfälliger für rechtspopulistische Parteien sind.
Noch vor wenigen Jahren wären solche aufwendigen Datenrecherchen in der Redaktion von ZEIT ONLINE kaum denkbar gewesen. Heute arbeiten wir regelmäßig in interdisziplinären Teams aus Journalisten, Entwicklern und Designern an umfangreichen Datensätzen. Wir bereinigen sie, analysieren sie, suchen nach interessanten Mustern. Manchmal dauert es Monate, bis aus der Kleinstarbeit ein Artikel entsteht, den Sie dann auf ZEIT ONLINE lesen können.
Auch bei dem Datenprojekt Darüber spricht der Bundestag gab es am Anfang einen Datensatz und viele Fragen: Wie hat sich die Sprache im Deutschen Bundestag verändert? Haben sich die Themen gewandelt, die dort verhandelt werden? Wochenlang analysierte ein Team die Redeprotokolle aller Sitzungen des Deutschen Bundestages – insgesamt 4.216 Protokolle und 200 Millionen Wörter. So entstand eine Datenbank, die es jeder Leserin und jedem Leser möglich machte, in allen jemals gesprochenen Wörtern zu recherchieren und nachzuverfolgen, wie oft manche Begriffe im Zeitverlauf fielen.
Kurz nach der Europawahl wollten wir herausfinden, wie die Bürger der EU gewählt hatten. Würden wir beim Blick auf die Daten regionale Muster entdecken, womöglich über Ländergrenzen hinweg? In welchen Teilen Europas sind die Grünen erfolgreich, in welchen die Konservativen oder Rechtspopulisten? Gemeinsam mit dem Datenanalysten Arnold Platon sammelten wir Wahlergebnisse aus den rund 80.000 Gemeinden aller 28 EU-Staaten, vereinheitlichten sie und visualisierten die Ergebnisse im Artikel Die neuen Farben Europas auf einer Karte. Nie zuvor gab es länderübergreifende Daten zu Europawahlergebnissen.
Schon während unserer Recherchen dachten wir: Manchmal erinnert unsere Arbeit ein wenig an das, was Wissenschaftler tun. Umso mehr freute es uns, dass uns in den vergangenen Monaten gleich mehrere Forscher kontaktierten, die mit unseren Daten arbeiten wollen. Mittlerweile laufen gleich mehrere Kooperationen mit Universitäten, etwa mit Harvard und Stanford in den USA und Oxford in Großbritannien.
Die Politikwissenschaftlerin Maria Polyakova aus Stanford interessiert sich etwa für die Frage, wie es zum Aufschwung im westdeutschen Pflegesektor in den Neunzigerjahren kam. Die Regierung Kohl hatte im Jahr 1995 die Pflegeversicherung eingeführt, in der Folge waren viele neue Stellen in der Langzeitpflege entstanden. Polyakova geht der These nach, dass der massive Zuzug von Ostdeutschen dabei half, die offenen Stellen im Westen zu besetzen. Für ihre Studie nutzt die Forscherin – neben anderen Datenquellen – auch unsere Datenbank. „Die historische Phase der Neunzigerjahre ermöglicht uns zu verstehen, welche Probleme und möglichen Lösungen es angesichts der Knappheit an Arbeitskräften in der Langzeitpflege heute gibt“, sagt Polyakova.
Der Harvard-Politologe Daniel Ziblatt, Autor des Bestsellers Wie Demokratien sterben, erforscht derzeit in Deutschland den Aufstieg der AfD. Auch er nutzt den Datensatz zur Ost-West-Migration, um die Folgen der großen Wanderung für die politische Entwicklung in Deutschland einzuschätzen. Der Sozialwissenschaftler Arun Frey von der University of Oxford verwendet die Daten aus Darüber spricht der Bundestag, um gesellschaftliche Konflikte während der Flüchtlingskrise zu analysieren. Und die EU-Kommission untersuchte mithilfe unserer Daten, wie das Wahlverhalten in einer Region mit dem Anteil der dort lebenden Migranten zusammenhängt.
Vor wenigen Tagen schrieb uns sogar eine Studentin der Humboldt-Universität. Nachdem sie Die Millionen, die gingen gelesen hatte, beschloss sie, ihre Arbeit über die Abwanderung der Ostdeutschen nach dem Mauerfall zu schreiben. Auch mit ihr haben wir unseren Datensatz selbstverständlich geteilt. Schön, dass wir nun Forschung inspirieren können, auf die wir im Alltag so angewiesen sind.
Coole Sache! Interessant zu lesen, wie sich auch die journalistische Arbeit zu verändern scheint. Ich selbst studiere Finance an einer Universität in Peking und ertappe mich auch regelmäßig dabei große Datensätze strukturieren und säubern zu müssen. Mir scheint, dass der fähige Umgang mit großen Datenmengen zum Handwerkszeug des 21. Jahrhundert gehört. Freue mich auf die nächsten Artikel!
Hochinteressant, das zitierte Buch von Ziblatt “ Wie Demokratien sterben” kann ich nur als Lektuere empfehlen, bitte um weitere Artikel aufgrund dieser Kooperation mit der Wissenschaft.Danke!
> So konnten wir zeigen, dass Regionen mit dem stärksten Wegzug heute anfälliger für rechtspopulistische Parteien sind.
Dass die Übriggeblieben meist älter sind eher konservativ wählen liegt in der Natur der Sache. Wobei „konservativ“ im Falle Ostdeutschlands auch eine gewisse Beharrung im Gewohnten, also Linke, bedeuten kann.
Gut dass die Zeit das wissenschaftlich untersuchen lässt, noch besser, dass dieser politische Zankapfel nicht bei deutschen Unis landet.
Schick schick!
Interessanter Hintergrundbericht. Dann mal weiter so! :)
Während andere Medien unseriöser werden um Klicks zu generieren, macht ihr genau das Gegenteil: Ihr nutzt die Mittel der Zeit um die journalistische Arbeit auf ein höheres Level zu heben.
Weiter so!
Als Python Effizienz Fanatiker der sich immer Gedanken macht wie der Code effizienter werden kann, und wo ich noch 1-2 Zeilen/Zeichen einsparen kann muss ich euch aber darauf aufmerksam machen dass ihr die Regex kürzer machen könnt. Das ist zwar eigentlich nur kosmetisch, aber die Wiederholungen stören mich.
„So konnten wir zeigen, dass Regionen mit dem stärksten Wegzug heute anfälliger für rechtspopulistische Parteien sind.
Gratuliere, dennoch eine Anmerkung dazu: Man kann damit nicht nur diese Anfälligkeit anhand von Daten zeigen, sondern auch, wie wenig die vormaligen Meinungsführer auf unterlegene Auffassungen geachtet haben, die diese Anfälligkeit allein aufgrund ihres Erfahrungswissens vorhergesagt haben. Sie verdienen es, dass ihre Prognosen anhand der vorliegenden Datensätze überprüft werden. Möglicherweise entdeckt man zwei Dinge. Zum einen lassen sich Rückschlüsse zur Ideologieanfälligkeit der Nachwendepolitik der 90er Jahre ziehen. Zum anderen kann man vielleicht auch zeigen, dass „Wissenschaft“ dem Erfahrungswissen unmittelbar betroffener Akteure nicht immer überlegen ist, weil deren Erkenntnisse empirisch zwar besser untermauert, aber eben reichlich spät ( 2018 ?) kommen. Für die nachfolgende, augenscheinlich links wie rechts zunehmend radikaler denkende Generation die unter diesen Rahmenbedingungen sozialisiert wurde, gewiss ein Gewinn für ein wieder etwas aufgeklärteres Politikverständnis.
Auch von meiner Seite ein großes Lob für diese Serie. Als ZON-lesender Wissenschaftler ist es schön, diese großen Datenmengen so sinnvoll aufbereitet zu sehen.