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Wie unser „Was wir wissen“ entsteht

 

Dieser Text erscheint in unserem neuen Glashaus-Blog. Was es damit auf sich hat, erfahren Sie hier.

Read the English version here.

Die Wahrheit ist: Wir wissen oft sehr wenig. Bei großen Nachrichtenlagen, die sich gerade erst entwickeln, steht am Anfang meist ein großes Fragezeichen – sei es beim Anschlag auf Charlie Hebdo oder das Bataclan in Paris, beim Anschlag in Nizza, beim Amoklauf in München oder nun beim Anschlag in Berlin.

Wenn man alles mediale Rauschen unterdrückt, das die Ereignisse auf den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche in Berlin hervorgerufen haben, wenn man alle Spekulation, alles Entsetzen, alle Meinung wegnimmt und nach den puren Fakten fragt, bleibt auch einige Tage nach dem Vorfall nicht viel übrig: Ein Sattelschlepper ist durch die Gasse eines Weihnachtsmarkts gefahren. Zwölf Menschen sind tot, 45 sind teils schwer verletzt. Der Täter ist geflohen. Das ist der Kern dessen, was wir sicher wissen.

ZEIT ONLINE hat schon vor langer Zeit eine Artikelform entwickelt, um diesen Kern bei großen, unübersichtlichen Ereignissen wie einem Terroranschlag zu isolieren. Wir nennen sie „Was wir wissen“, intern abgekürzt WaWiWi. Mittlerweile nutzen viele Medien ähnliche Formen – allerdings nach sehr unterschiedlichen Standards. Auch deshalb sei hier erklärt, wie unser WaWiWi entsteht.

Das WaWiWi soll einen schnell zu erfassenden Überblick über die gesicherten Fakten liefern – und nur die Fakten. Es soll ein Anker sein im Strom der sich überschlagenden Meldungen. Dorthin kann jeder zurückkehren, der angesichts verwirrender und sich widersprechender Informationen zweifelt. Deshalb richtet sich das WaWiWi sowohl nach außen an die Leser als auch nach innen an alle Redakteure und Reporter von ZEIT ONLINE, die ebenfalls am Thema arbeiten.

Geschrieben wird es von einem festen Rechercheteam, meist von den beiden Investigativ-Teams von Online und Print. Wir haben klare Regeln, nach denen wir ein WaWiWi erstellen:

1. Sichere Quellenlage

Als sicheres Wissen wird nur notiert, was wir entweder selbst verifiziert haben, oder was uns von mindestens zwei voneinander unabhängigen Quellen, denen wir vertrauen, bestätigt wurde.

Diese einfache Grundregel führt dazu, dass unser WaWiWi gerade am Anfang nur wenige Punkte enthält. Als etwa in der Nacht des Anschlags in Berlin ein Tatverdächtiger gefasst war, vermied unser WaWiWi es peinlich, ihn als Fahrer des Lkw zu bezeichnen, auch über seinen Hintergrund schwieg es sich noch lange aus, nachdem bereits eine Reihe von Medien Informationen dazu vermeldet hatten. Diese Informationen waren zum Teil widersprüchlich, zum Teil waren wir uns nicht sicher, ob sie nicht doch nur auf einer einzigen Quelle beruhten, die alle Medien nutzten.

Auch wir hatten zu dem Mann recherchiert, den die Polizei noch in der Nacht festgenommen hatte. Woher stammte er, wie lange lebte er schon in Deutschland? Es waren sämtlich Fakten, die bestätigt waren, die sich aber schon nach kurzer Zeit als tote Spur erwiesen. Die Polizei konnte keinen Zusammenhang zwischen dem Mann und der Tat finden.

2. Kein Konjunktiv

Regel Nr. 1 führt zwangsläufig zu einer sehr klaren Sprache: In unseren WaWiWis kann qua Definition kein Konjunktiv vorkommen. Denn Formulierungen wie „Der Tatverdächtige könnte sich noch in Berlin aufhalten“ oder „Der Mann soll 24 Jahre alt sein“ zeigen ja nur, dass es sich eben doch nicht um gesichertes Wissen handelt.

3. Keine Wertungen

Im WaWiWi werden nur Fakten gesammelt, keine Wertungen. Es wird dort nicht interpretiert, was der Fall zu bedeuten hat. Es steht dort nicht, wie Politiker oder Experten ihn einschätzen. Wir beschreiben auch keine Folgen, die sich aus dem Ereignis ergeben, beispielsweise, welche Konsequenzen die Behörden ziehen.

4. Größtmögliche Transparenz

Was wir nicht sicher wissen, machen wir kenntlich. Informationen, die Medien oder andere Einzelquellen berichten, welche wir für seriös halten, nehmen wir in das WaWiWi auf, schreiben aber dazu, dass diese Informationen noch „nicht sicher“ sind, dass wir sie also noch nicht durch eine unabhängige zweite Quelle bestätigen konnten. Als „nicht sicher“ übernehmen wir nur Informationen, die potenziell wichtig zum Verständnis des Ereignisses sein können.

Zur Sammlung der Fakten gehört es für uns auch, die wichtigsten offenen Fragen zu benennen.

Diese vermeintlich einfachen Regeln einzuhalten, ist schwer. Was ist gerade gesichertes Wissen und was davon ist wichtig?

Das WaWiWi ist ein lebender Text. Es ändert sich ständig. Was für den Fall nicht mehr relevant ist, streichen wir, neue Informationen fügen wir hinzu. Manchmal handelt es sich nur um Details, wenn beispielsweise klar wird, wie der Lkw vom Berliner Anschlag in die Stadt gekommen ist und wo er wann geparkt wurde.

Wenn es keine neuen Fakten gibt, die sich belegen lassen, kann es sein, dass sich am WaWiWi längere Zeit nichts verändert. Richtigkeit geht hier vor Schnelligkeit. Das kann antriebslos wirken und am Anfang ahnungslos. Trotzdem hoffen wir, dass wir mit dieser Form Orientierung bieten können.

28 Kommentare

  1.   Zeitzeichenselbstmitdenker

    Lobenswert. Bitte auch beim Thema „Syrien“ so machen. Insbesondere die Korrektur falscher Zahlenangaben und der Rückgriff auf seriöse unabhängige Quellen fehlt mir dort.

  2.   Rudolf1941

    Guter Beitrag !
    Aller Anfang ist schwer … aber das spielt sich schon noch ein …

  3.   TBBB

    @plapla, Valmel: Stand irgendwo, dass ZON sich auf WaWiWi beschränkt und nichts anderes mehr publiziert?

    Ich finde die Initiative gut, als „Rückzugsgebiet“ tatsächlich auch dringend benötigt, im Meer der teilweise wüsten Spekulationen.

  4.   K. Salai

    Super Sache!

    Eine weitere Regel sollte sein, dass ALLE gesicherten Informationen in der Rubrik erscheinen und die gesicherten Informationen selektiert werden. (Nicht, dass ich bei den letzten Berichterstattungen das Gefühl hatte, die Zeit hält mir Informationen vor, aber ich finde man sollte das als Grundsatz mit aufnehmen.)

  5.   -Palomino-

    Danke für die erhellende Darlegung.
    Sich ganz zurück zu ziehen halte ich aber auch nicht wirklich für sinnvoll.
    Denkt doch bitte einmal in euren Darstellungen an die

    Rumsfeld-Methode: „Es gibt bekannte Bekannte, es gibt Dinge, von denen wir wissen, dass wir sie wissen. Wir wissen auch, dass es bekannte Unbekannte gibt, das heißt, wir wissen, es gibt einige Dinge, die wir nicht wissen. Aber es gibt auch unbekannte Unbekannte – es gibt Dinge, von denen wir nicht wissen, dass wir sie nicht wissen.“

    Möglicherweise ist die Darstellung des „was wir wissen“ gekoppelt mit „was wir nicht (oder nicht gesichert) wissen“ auch hilfreich und unterbindet wildeste Spekulationen. Ein „zu diesem Zeitpunkt…“ könnte manche Hasstirade hier entschärfen. In jedem Fall aber der richtige Weg.

    Unabhängig davon gibt es trotzdem Kolumnen die den Eindruck hinterließen, das sie nicht sauber recherchiert sind. Das passiert sich auch.

  6.   fknisel

    Finde den Ansatz von ZEIT ONLINE sehr gut, abzuwarten und nur gesicherte und verifizierte Informationen zu veröffentlichen. Das ist sehr lobenswert!
    Ich habe mich während der Ereignisse in Berlin dank ihres Liveblogs, der sehr übersichtlich gestaltet ist und ständig aktualisiert wurde, und des WaWiWi-Artikels, der einen schnellen Überblick über alle Informationen bot, immer gut informiert gefühlt.

  7.   sybille_groß

    Mit dieser Art von Journalismus kann ich mich nicht anfreunden, wo so viele Worte gemacht werden (was als Fakt gewertet wird, unterliegt auch einer von Interessen geleiteten Entscheidung!) und mit dem Begriff Transparenz operiert wird, da bin ich erst einmal skeptisch und schaue mir die dahinterstehende Intention genau an.

    Ich erwarte eine Einordnung, eine Wertung aufgrund einer politischen
    Haltung. Dies ist für mich die Aufgabe von Medien in ihrer Funktion als vierte Gewalt.

  8.   Waldtier

    Erst einmal finde ich gut dass es diese Faktenübersicht gibt. Gerade wenn man in der Ferne und während der Arbeit nur nebenbei Sachen auf Twitter liest ist es gut am Abend kurz zu sichten was jetzt eigentlich stimmt.
    Traurig finde ich (und das bezieht sich auch auf ZON) dass ihr Journalisten jetzt eine eigene Nische kreiert wo ihr euch „an die Fakten“ haltet. Das empfinde ich als sehr bedenklich. Heisst nämlich dass die anderen x-Artikel diesem Kriterium nicht entsprechen müssen.

  9.   Karsten Polke-Majewski

    Lieber Palomino,

    Genau das tun wir. Wenn Sie unser WaWiWi zu Berlin ansehen, werden sie zwei Abschnitte finden: 1. Was wir sicher wissen 2. Was wir nicht sicher wissen. Diese Unterscheidung ist es, die ich unter meiner 4. Regel „Größtmögliche Transparenz“ meinte.

  10.   Karsten Polke-Majewski

    Lieber plapla,

    Augenzeugen sind leider schlechte Auskunftgeber, wenn man erfahren möchte, was tatsächlich geschehen ist. Erfahrene Ermittler können ein Lied davon singen. Denn jedes Mal, wenn wir uns erinnern, setzen wir die Geschichte neu zusammen und verändern sie damit. Das geht jedem Menschen so und ist ein ganz normaler prozess. Nur die Aufklärung eines Ereignisses damit ist schwierig.

    Das soll nicht bedeuten, dass man nicht mit Zeugen sprechen und ernst nehmen soll, was sie berichten. Ganz im Gegenteil. Aber wenn es darum geht, den Kern des Ereignisses zu verstehen, sind ihre Angaben oft widersprüchlich und undeutlich. Da ist es wichtig, weitere, andere Quellen zu finden.

 

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