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Wie wir mit Wahlumfragen umgehen

 

Dieser Text erscheint in unserem neuen Glashaus-Blog. Was es damit auf sich hat, erfahren Sie hier.

Bei der US-Wahl und beim Brexit-Referendum lagen Meinungsforscher dermaßen daneben, dass in der ZEIT-ONLINE-Redaktion eine Diskussion entbrannt ist, ob man Meinungsumfragen noch trauen darf. Und wenn nicht: Sollen wir überhaupt noch über sie berichten?

Wir sind der Datenjournalist und der Bordmathematiker von ZEIT ONLINE und haben uns gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen vor der Bundestagswahl mit dieser Frage beschäftigt. Insbesondere bei knappen Entweder-Oder-Entscheidungen (wie Brexit und US-Wahl) ist der Aussagewert von Meinungsumfragen sehr beschränkt oder schlicht nicht vorhanden. Zwar unterscheidet sich das Wahlrecht bei der Bundestagswahl fundamental von dem der US-Präsidentschaftswahl; es geht bei uns eben nicht nur um zwei Kandidaten. Dennoch haben Wahlumfragen auch hier ihre Tücken. 

Dies beginnt schon damit, dass Wahlumfragen häufig für eine Prognose über den tatsächlichen Wahlausgang gehalten werden und auch entsprechend über sie berichtet wird. In Wahrheit sind Wahlumfragen Momentaufnahmen. Sie geben ein eingeschränktes Stimmungsbild wieder.

Ohnehin ist die schiere Anzahl der Wahlumfragen insbesondere jetzt, kurz vor der Bundestagswahl, enorm. Meinungsforschungsinstitute veröffentlichen laufend neue Zahlen, zum Teil sogar mehrmals in der Woche. Die hohe Taktung von immer neuen Umfragen erzeugt leicht den Eindruck, der Wahlkampf gleiche einem Rennen. Wieder hat eine Partei einen Prozentpunkt hinzu gewonnen und liegt nun knapp vor der Konkurrenz.

Doch tut sie es wirklich? Man kann das nicht so präzise sagen, wie es die Umfrageergebnisse scheinen lassen. Wer die Möglichkeiten und Methoden der Demoskopie genau betrachtet, erkennt, dass solch scheinbar punktgenaue Aussagen anhand einer einzelnen Wahlumfrage gar nicht getroffen werden können.

Bei ZEIT ONLINE wollen wir deshalb mit derartigen Meldungen zurückhaltend sein. Die vermeintliche Nachricht, wonach Partei X einen oder zwei Prozentpunkte hinzugewonnen habe, werden Sie bei uns nicht mehr finden.

Umfrageergebnisse unterliegen immer Fehlern, denn sie basieren auf Stichprobenbefragungen. Diese Befragungen erreichen aber in der Regel nur spezielle Teile der Bevölkerung, beispielsweise Menschen mit Festnetztelefonanschluss oder Internetnutzer. Einige Teilnehmer antworten obendrein falsch. Oder sie reagieren auf vorangegangene Umfragen und Publikationen. Das heißt, sie antworten nicht, was sie meinen; sie antworten mit Erwartungen.

Natürlich wissen Umfrageinstitute das sehr genau. Um dennoch ein allgemeines Meinungsbild über alle Bevölkerungsgruppen hinweg berechnen zu können, gleichen die Demoskopen vermutete Einflüsse aus und gewichten die vorliegenden Zahlen. Die Rezepte dafür unterscheiden sich von Institut zu Institut. Sie sind so geheim wie die Colaformel.

Dazu kommt: Wenn eine Umfrage repräsentativ genannt wird, dann repräsentiert sie nur in ausgewählten Aspekten die Verteilung in der Gesamtbevölkerung. Ob Geschlechterverhältnis, Einkommen, Altersstruktur oder alles zusammen repräsentiert werden, ist mit dem Label repräsentative Umfrage nicht gesagt.

Die Umfragewerte unterliegen also vielfachen Einflüssen, die in ihrer Gesamtheit gar nicht gemessen werden können – und womöglich auch nicht das Meinungsbild der gesamten Wahlbevölkerung wiedergeben. Dieselben Fragen, zum selben Zeitpunkt zwei verschiedenen Menschengruppen gestellt, würden mindestens leicht unterschiedliche Umfragewerte produzieren.

Wahlumfrage Allensbach vom 22. August 2017
Man kann diese Unsicherheiten statistisch als eine Art Fehler beschreiben. Die meisten Institute geben eine solche statistische Unsicherheit an. In unseren Grafiken zu Wahlumfragen machen wir diese Unsicherheit von nun an sichtbar. Die Linien für die einzelnen Parteien sehen aus, als wären sie mit einem dicken Filzstift gemalt worden.*

In der Regel liegt der tatsächliche Wert mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem Bereich von einem bis drei Prozentpunkten über oder unter den letztlich angegebenen Messwerten. Ein Beispiel aus der aktuellen Sonntagsfrage vom Institut für Demoskopie Allensbach (Stand 22. August 2017): Dort werden für die CDU 39,5 Prozent ausgewiesen. Unter Berücksichtigung des Messfehlers von rund drei Prozentpunkten wäre es aber richtiger zu sagen, dass sich die Christdemokraten in der Wählergunst aktuell in einer Spanne von etwa 36 bis etwa 42 Prozent bewegen.** Deshalb ist die Linie in unserer Wahlgrafik entsprechend dick.

Erst wenn sich ein Trend für eine Partei über einen längeren Zeitraum bei einem Institut bestätigt, berichten wir darüber. In solchen Berichten informieren wir zusätzlich mit einer Infobox über Unsicherheiten bei Meinungsumfragen: Mehr als eine grobe Tendenz für ein Meinungsbild lässt sich aus Umfragen nicht ableiten. Selbst wenn die Aussagen und Berechnungen zum Veröffentlichungszeitpunkt der Umfrage nahe an der Realität liegen, ist immer noch offen, ob die damals befragten Wähler später tatsächlich ihre Stimme abgeben oder sich am Ende ganz anders entscheiden.

* Die Demoskopen von Emnid veröffentlichen solche Zahlen nicht regelmäßig. In diesem Fall gehen wir in unseren grafischen Darstellungen von einem realistischen und üblichen Messfehler von 2,5 Prozentpunkten aus.

** Die von Allensbach ausgewiesenen Nachkommastellen halten wir für unsinnig. Eine solche rechnerische Punktlandung im Halbprozentbereich täuscht doch eher die Möglichkeit einer exakten Prognose vor, als dass sie in dieser Form wirklich belastbar ist.

Ab heute analysieren bis zum 24. September fünf Experten das Wahlgeschehen, die allesamt eines verbindet: Sie sind skeptisch gegenüber verfrühten Prognosen, mitunter auch gegenüber Prognosen an sich. In unseren Redaktionsräumen wird außerdem ab sofort ein siamesischer Kampffisch täglich die Kanzlerfrage beantworten. Dieses Fisch-Orakel soll uns bis zum Wahlabend daran erinnern, dass wir die Zukunft vielleicht nicht viel besser kennen als ein Fisch.

28 Kommentare

  1.   Jakob_Bauer

    Ich weiß natürlich, dass dieser Standpunkt politisch nicht durchsetzbar ist, aber ich finde, Meinungsumfragen sollten abgeschafft werden. In einer repräsentativen Demokratie verunmöglichen sie langfristige Politik, da jeder Atemzug eines Politikers in seiner Wirkung online analysiert wird und sofortige Reaktionen hervorruft. Die Frage, „Was würden Sie wählen wenn am Sonntag Bundestagswahl wäre“ ist absolut irrelevant, denn am Sonntag ist keine Bundestagswahl. Je genauer solche Analysen werden, desto schlimmer wird das Problem. Dieser Zustand der Pollokratie kombiniert alle Nachteile der repräsentativen und der direkten Demokratie. Die Vorteile beider Modelle kommen hingegen nicht zum Zug. Stattdessen sollte man über eine direkte Demokratie nach Schweizer Vorbild nachdenken.

  2.   goenna1@gmx.net

    wie Sie mit Meinungsumfragen umgehen?
    immer noch erschreckend plakativ!
    warum heißt die heutige erste Überschrift des newsletters nicht:
    Umfragewerte der SPD von 1007 Befragten eines der vielen zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen führenden Meinungsforschungsinstituten liegt heute bei 16%!
    dann wäre zumindest die Lächerlichkeit und inhaltliche Lerre dieser tendenziösen Blasen Nachricht deutlich!
    Ich wünsche mir von Ihnen klare Informationen und nicht Stimmung machende Politik!
    Mit freundlichen Grüßen,
    Gönna Pezely

  3.   BorderThinker

    Es wirkt plausibel, dass das Problem eher nicht bei den Umfragen liegt sondern in der medialen Auswertung derselben.
    Andererseits, ohne die Möglichkeit der medialen Auswertung gibt kaum jemand eine Umfrage in Auftrag. Ohne die mediale Auswertung zuzulassen bekommt niemand den bezahlten Auftrag zu einer Umfrage.
    Das sind schlechte Voraussetzungen für zukünftig bessere publizierte Ergebnisse.

  4.   Raimo Lintonen

    One aspect has me irritated: The surveys may not be reliable even in the case of tendencies since it might be the commentaries and reports in media which tend to create the trend. To simplify my point: the media do not need the numbers, only their hunch, intuition about the „trends“

  5.   Realistundträumer1

    Meine Auffassung von Wahlumfragen ist folgender: siedienen meines Erachtens zur Festigung von Meinungeb, besitzen keine Neutralität, sind manipulierend und ähneln einer Kaffeesatzleserei.
    Berichtet nicht darüber, ansonsten müßte man Euch auch der Manipulation bezichtigen.

  6.   MsMarple

    Gefühlsmäßig kommt es mir so vor, als wäre ausgerechnet in einer Zeit, in der viele Menschen im Netz das innerste nach außen kehren und freiwillig alles mögliche von sich preisgeben, auf Umfrageergebnisse viel weniger Verlass ist als früher. Kann gut sein, dass es immer schon so war, man das bloß nicht so extrem wahrgenommen hat wie nach der letzten US-Wahl und dem Brexit. Über die journalistische Berichterstattung hinaus werden diese Stimmungstests ja auch von den Parteien direkt genutzt, und je mehr man über die recht ausgefeilten und gezielten Methoden weiß, mit der sich die entsprechenden Anbieter ihre Erkenntnisse verschaffen und den Parteien verkaufen, umso unangenehmer berührt ist man. Die Instrumente dürften sich im wesentlichen nicht viel von denen unterscheiden, mit denen ermittelt wird, ob man noch einen Kredit zu bekommt, wenn man in einer bestimmten Straße wohnt.

  7.   keats

    „Das heißt, sie antworten nicht, was sie meinen; sie antworten mit Erwartungen.“

    Und daher kann die Publikation von Umfragen auch wahlbeeinflussend sein.
    Wenn man sich nicht dem Verdacht aussetzen will, Wahlen beeinflussen zu wollen, sollte man immer nur alle Wahlumfragen veröffentlichen oder gar keine.

  8.   Harzzach

    Es wurde zwar schon oft genug gesagt, ich möchte es dennoch gerne wiederholen, weil es IMHO sehr wichtig ist:

    Die Umfragen lagen sowohl bei der US-Wahl als auch beim Brexit-Votum NICHT vollkommen falsch. Ganz im Gegenteil. Die tatsächlichen Ergebnisse lagen alle in dem von den Demoskopen angebenen Unschärfebereich. Wer meint, dass die Umfragen falsch waren, hat fatalerweise Wahrscheinlichkeiten mit Sicherheiten verwechselt.

    War es wahrscheinlicher, dass Clinton gewinnt? Ja. War es unmöglich, dass Trump gewinnt? Nein, ganz und gar nicht. Nur weniger wahrscheinlich :)

    Ebenso beim Brexit-Votum. Alle haben ein knappes Ergebnis prognostiziert, mit einer etwas höheren Wahrscheinlichkeit für „Remain“. Das Endergebnis lag klar in der erwarteten Fehlerquote, nur ist eben das etwas weniger wahrscheinliche, aber NICHT UNMÖGLICHE Ergebnis „Leave“ eingetroffen.

    Man muss Umfragen lesen können. Das sind keine Aussagen darüber, was tatsächlich passieren wird, sondern mittlerweile sehr genaue Abschätzungen über die Wahrscheinlichkeit (!) eines Wahlergebnisses.

  9.   collie4711

    Ob Glaskugel, Fisch oder Tintenfisch wie beim Deutschen Sommermärchen – auch die Knochen von Loki sind willkommen, sowie das Orakel von Delphi. Entscheidend sind keine 1000 oder 2000 repräsentativ ausgewählte Wahlberechtigte. Die Wähler und die Nichtwähler entscheiden. Am 24.9. gegen 18:05 sehen wir die ersten Prognosen. Danach die ersten Hochrechnungen. Irgendwann steht das amtliche Endergebnis fest. Bis dahin ist der Kaffeesatz geduldig.

  10.   cyqurayte

    Interessant wäre jetzt noch, einschätzen zu können, inwiefern Umfragen das Wahlverhalten beeinflusst. Immerhin setzen sie schonmal einen Anreiz, keine Parteien zu wählen, die wahrscheinlich nicht in den Bundestag ziehen oder auf taktisch zu wählen, um bestimmte Koalitionen zu ermöglichen. Die Messung beeinflusst das Ergebnis, sozusagen, aber wie genau?
    Haben Sie da auch Informationen drüber?

 

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