Es ist ein bemerkenswertes wirtschaftspolitisches Programm, mit dem Jeremy Corbyn da antritt. Mit viel Pathos verweist der neue Labour-Vorsitzende auf das Jahr 1817: Vor knapp 200 Jahren habe Großbritannien doch die Energierevolution weltweit angeführt, indem in Manchester eine Gesellschaft in öffentlicher Hand gegründet wurde, um die Stadt mit Gas und Wasser zu versorgen.
Corbyn will die „Sozialisierung unserer Energieversorgung“, so schreibt er es unumwunden in seinem elfseitigen energiepolitischen Programm. Die heutige Struktur, in der sich sechs Unternehmen – die „Big 6“ nennt er sie – das Geschäft aufteilten, müsse beendet werden. In Großbritannien sind Stromnetze und Energieversorgung komplett privatisiert. Unternehmen wie Centrica und SSE hätten nicht in die Netze investiert, kritisiert Corbyn. Im Gegenteil: Unter ihnen sei der Wert der öffentlichen Güter nur so dahingeschmolzen. „Großbritannien braucht eine Energiepolitik für seine 60 Millionen Einwohner, nicht für die ‚Big 6′“, schreibt der Labour-Chef. Seine Forderung: Unternehmen verstaatlichen.
In Interviews mit der Financial Times und dem Energy Desk von Greenpeace konkretisierte Corbyn sein Konzept. Er könne sich vorstellen, dass bereits geschlossene Kohleminen in Südwales, einem der großen Abbaugebiete in Großbritannien, eines Tages sogar wieder eröffnet würden. Dort gebe es Steinkohle von hoher Qualität, die bei entsprechenden Weltmarktpreisen auch eines Tages wieder gefördert werde könnte.
All das klingt nach vergangenen Zeiten. Ausgerechnet im Heimatland des Kapitalismus und der Unternehmensfreiheit schickt sich der neue Oppositionsführer an, Unternehmen zu verstaatlichen: Energiekonzerne, aber auch die Bahn. Und dann vielleicht auch noch zurück in die Kohle. Dreht Corbyn gerade am Rad der Zeit und will zurück ins kohlebeseelte England, das Charles Dickens so anschaulich beschrieben hat?
Eine klare Antwort ist schwer möglich. Die Gasfördertechnologie Fracking etwa lehnt Corbyn ab, ebenso den Bau von Atomkraftwerken. Corbyns Vorbild ist das Energiewende-Deutschland mit seinen Hunderten kommunalen Energieversorgern und den Millionen privaten Solarstromproduzenten. Zudem will er eine Million neu sogenannte Klima-Jobs unter anderem in den erneuerbaren Energien schaffen.
Neun der zehn noch aktiven Kohlekraftwerke sind älter als 43 Jahre
Keine Frage, in der britischen Energiewirtschaft gibt es einiges zu tun, wenn sie klimafreundlicher werden und die Politik Anreize zum Investieren in neue Kraftwerke schaffen soll. Der Kraftwerkspark in Großbritannien ist extrem veraltet. Nach Angaben der Klimaschutz-Organisation Sandbag sind neun der zehn noch aktiven Kohlekraftwerke mehr als 43 Jahre alt, an zweien sind die deutschen Versorger RWE und E.on beteiligt. Zudem gönnt sich die Cameron-Regierung aktuell den Wiedereinstieg in die Atomkraft und hat in einem spektakulären Deal dem französischen Versorger EdF einen lukrativen Garantiepreis für jede Kilowattstunde versprochen, damit dieser das Atomkraftwerk Hinkley Point C baut.
Corbyns Anliegen mag also richtig sein. Beobachter sind aber skeptisch, wenn es an die Details geht. Wie etwa will der Labour-Chef die Energieunternehmen verstaatlichen? Bei börsennotierten Unternehmen kann er versuchen, die Aktienmehrheit zu übernehmen, aber bei nicht-öffentlich gehandelten Firmen – wie eben auch die britischen Töchter von RWE und E.on – wird eine Übernahme kompliziert. Und teuer. Der britische Guardian hat einmal überschlagen, dass die Verstaatlichung mindestens 185 Milliarden Pfund, also rund 220 Milliarden Euro, kosten könnte. „Der britische Staat hat wirklich kein Geld für solche Übernahmen, das treibt die Staatsverschuldung noch mehr in die Höhe“, sagt Roland Vetter, Energieanalyst bei CF Partners in London. „Außerdem gelten staatlich kontrollierte Unternehmen in der Regel als ineffizient und schwerfällig.“
Sicherlich ist es sinnvoll, dass Jeremy Corbyn möglichst schnell einmal nach Deutschland kommt, um sich sein Energiewende-Vorbild einmal anzuschauen. Denn auch wenn viele Deutsche grundsätzlich die Umstellung von Atom- und Kohlekraft auf erneuerbare Energien befürworten: Es ruckelt doch vielerorts – keine neuen Windparks, keine neuen Stromleitungen. In Großbritannien ist es ähnlich, auch dort gibt es Proteste. Erst vor wenigen Tagen entschied die britische Regierung, wegen lokalen Widerstands einen großen Offshore-Windpark vor der Isle of Wight nicht zu bauen. Bis zur nächsten Wahl im Jahr 2020 hat Corbyn also noch Zeit, um sein Programm dem Realitätscheck zu unterziehen.