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Hamburger SV

Mamas Liebling trifft

 

Es gibt Menschen in meiner Familie, die nur zu ganz bestimmten Anlässen anrufen. Zum Beispiel zum Geburtstag. Den Rest des Jahres höre ich nichts von ihnen, und das ist auch in Ordnung. Mein Cousin ist so einer. Immer wenn der HSV gegen Borussia Mönchengladbach spielt, ruft er an, und will plötzlich wissen, wie es mir geht. Und eigentlich auch nur dann, wenn Gladbach gewonnen hat. Vor dem Anpfiff am Sonntagnachmittag war also klar: Läuft der Tag schlecht, muss ich abends mit meinem Cousin telefonieren und seine Schadenfreude über mich ergehen lassen.

Das Spiel habe ich mir bei meinen Eltern angeschaut. Mein Vater war pessimistisch wie immer, meine Schwester mindestens skeptisch. Meine Mutter hingegen sagte nur: „Die gewinnen.“ Das sagt sie immer. Aber diesmal fügte sie noch hinzu: „Mein Freund wird ein Tor schießen.“ „Dein Freund?“, fragte ich und wunderte mich, dass ich der Einzige war, der sich wunderte. „Stieber ist seit der Relegation gegen Fürth Mamas Liebling“, klärte meine Schwester mich auf.

Für die, die es nicht mehr wissen: Zoltán Stieber war im vergangenen Jahr in den Relegationsspielen Fürths bester Spieler und hätte den HSV fast in die zweite Liga befördert. Und noch bevor klar war, dass die Hamburger in der Ersten Liga bleiben würde, noch während eine ganze Stadt zitternd vor dem Fernseher saß, und diesem Spieler alles Schlechte wünschte, schloss meine Mutter den „Feind“ in ihr Herz, „weil er so mutig gespielt und nie aufgegeben hat“.

Rückblickend enttäuschte mich das Loyalitätsverständnis meiner Mutter schon ein wenig. Bevor das Heimspiel des HSV gegen Gladbach begann, nahm ich mir aber vor, ihr zu verzeihen, falls ihr Freund tatsächlich ein Tor schießen sollte.

Die Anfangsphase war allerdings nicht sehr vielversprechend. Bereits nach wenigen Minuten hatte Gladbach zwei Riesenchancen zum 1:0. Ich hatte Angst, die HSV-Mannschaft wolle nach dem 0:8 gegen die Bayern nun zeigen, dass sie durchaus in der Lage sei, auch mal zweistellig zu verlieren. Ich fing bereits an, nervös auf mein Handy zu schauen, denn in der Regel kündigt mein Cousin seine Anrufe durch kleine Sticheleien per WhatsApp an. Aber noch tat sich nichts.

Das Spiel plätscherte vor sich hin. Weder die Hamburger noch die Gladbacher erspielten sich viele Torchancen. Dann ging es ganz schnell: Gladbach vertändelte den Ball im Spielaufbau und Innenverteidiger Slobodan Rajković spielte einen Pass auf Artjoms Rudņevs, der Stürmer verlängerte auf den freistehenden Stieber – und Mamas Freund schloss sehenswert zum 1:0 ab. Noch nie hat meine Mutter sich so über ein Fußballtor gefreut. Und auch der Rest der Familie hatte richtig gute Laune. Ein schöner Sonntag.

In der 85. Minute schnappte ich mir mein Telefon. „Wen rufst du an?“, fragte meine Schwester mich. Ich erklärte ihr die Geschichte mit unserem Cousin, und sagte ihr, dass nun der Zeitpunkt gekommen sei, den Spieß umzudrehen. „Ich würde an deiner Stelle ja noch warten“, sagte meine Schwester. „Du kennst den HSV.“ Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass der HSV noch ein Tor kassieren würde, schließlich standen sie hinten ziemlich gut. Ich rief an, aber mein Cousin ging nicht ran. „Feige“, sagte ich ein wenig enttäuscht und legte das Telefon beiseite.

In der ersten Minute der Nachspielzeit hatte Gladbachs Max Kruse tatsächlich noch die Riesenchance zum Ausgleich, aber sein Schuss war zu unplatziert. Noch mal Glück gehabt, dachte ich mir. Gerade angesichts der hochkarätigen Torchancen, die der HSV in den Minuten zuvor fahrlässig vergeben hatte.

In der dritten Minute der Nachspielzeit passierte dann doch noch das Unglaubliche: Gladbach glich nach einer Ecke aus. Kurz darauf pfiff Schiedsrichter Felix Zwayer das Spiel ab. Endstand: 1:1.

Ein paar Minuten nach dem Abpfiff klingelte mein Handy. Ein anonymer Anrufer. „Hallo?“, fragte ich. „Kennst du dieses Gefühl, wenn ein Unentschieden sich wie eine Niederlage anfühlt?“, fragte die Stimme am anderen Ende.