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Eckensteher Ottensen

Mit Tulpen gegen die Tristesse

 

Wie tickt Hamburg? Um das herauszubekommen, hat sich Lea Lüdemann einen Tag lang vor das Familieneck in Ottensen gestellt. Ihre Eindrücke in Bild, Text und Ton

„Hallo. Hallo! HALLO! Alles klar?!“, raunt mir ein Teenager, um die 16 Jahre alt, mit schielendem Blick, dicken Brillengläsern und azurblauem Jogger bekleidet, zu. Kommt immer näher, streckt mir seine Hand entgegen, bis sie nur noch Zentimeter von meinem Gesicht entfernt ist. Was hat er vor? Soll, kann, darf ich seine Hand wegschlagen, mich umdrehen? Er hält inne, zieht die Hand zurück. Geht weiter. Bleibt stehen, dreht sich um und fragt erneut, nicht ohne eine Spur Aggressivität in der Stimme: „Alles klar?“ „Ja-a“, antworte ich zögerlich. Er geht weg.

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Ich atme durch, schaue mich um. Ich stehe am Alma-Wartenberg-Platz in Ottensen, hinter mir das Familieneck, im Sommer Treffpunkt für heitere Trinkgelage auf den Bänken davor und bekannt für sonntägliche Tatort-Ausstrahlungen.

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Gegenüber von der Bar, auf der anderen Straßenseite, steht ein Wohnhaus, dessen Fassade von einem Baugerüst fast vollkommen verdeckt ist. Wie so oft, wenn ich Baugerüste sehe, frage ich mich: Wo sind bloß die Bauarbeiter? Weiter links von mir sehe ich einen trashig wirkenden Asia-Supermarkt, seinen Namen kann ich beim besten Willen nicht lesen.

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Auf dem Alma-Wartenberg-Platz trinken, wie meistens, ein paar angetrunkene Männer und eine Frau Schnaps und Bier. Sie unterhalten sich lautstark. Ein kleiner Hund wuselt um sie herum, blickt mir hoffnungsvoll entgegen.

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Daneben dann: ein kleiner Funken Behaglichkeit in dieser Tristesse. Das Aurel, knallrot angemalt, mit blauen Fensterläden. Davor bunte Stühle, Wolldecken und Tische mit ein paar Tulpen drauf. Trotz der zwei Grad plus, die an diesem Donnerstagnachmittag im Januar für Atemhauch vor meinem Mund sorgen, sitzen Raucher und Leute mit Kaffee dort drüben, dick eingepackt in Jacken, Mützen und Schals.

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Doch kehren wir zurück zu meinem Standpunkt. Ich mag diese Ecke in Altona, mit ihr verbinde ich laue Sommernächte mit Straßenbier, bunte, günstige Blumen vom Blumenladen ohne Namen neben dem Aurel, und spontane Treffen mit Freunden, die, wie ich, in der Nähe wohnen. „Treffen wir uns am Platz?“, fragen wir und suchen dann Cafés, Bars oder Parks im Viertel auf.

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Jetzt, um 14.45 Uhr an diesem Donnerstag im Januar, sieht es hier anders aus: Der Himmel ist wolkenverhangen und der Tag neigt sich schon wieder seinem Ende entgegen. Ich blicke auf ein monotones Nebeneinanderher von Abläufen und Aktivitäten und fühle mich einsam. Menschen, die in die eine oder in die andere Richtung unterwegs sind, blicken nicht auf, um ihr Gegenüber ins Auge zu nehmen. Völlig versunken in ihre eigenen Gedanken setzen sie einen Fuß vor den anderen.

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Der Ort wirkt trist, obgleich Schulkinder ihren Eltern auf dem Nachhauseweg aufgeregt vom Tag erzählen, und junge Mütter schwungvoll Kinderwagen vor sich herschieben. Ich bin entmutigt von „meinem Platz“, den ich sonst mit so viel Lebensqualität verbinde. Gleichzeitig weiß ich, dass sich diese düstere Stimmung für mich nur ergibt, weil ich innehalte. Würde ich zum Einkaufen vorbeischlendern, fiele mir nichts auf.

Um mich herum legen sich Geräusche zu einem dissonanten Mischmasch übereinander: Autos, Schritte, Schlüsselklirren, der 150er Bus. Kinderstimmen, Fahrradklingeln, Telefongespräche. Selbst die Autos scheinen sich auf die Wintermelancholie eingestellt zu haben, sie sind fast alle in dunklen Farben lackiert: Auf einen schwarzen VW Sharan folgt ein dunkelgrauer BMW, auf einen schlammfarbenen Smart folgt ein dunkelblauer VW-Bus. Dann erscheint ein Polizist, der vor zwei vor dem Asia-Supermarkt haltenden Autos innehält, seinen Block zückt und mit gleichgültigem Gesicht Strafzettel unter die Regenwischer klemmt.

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Drei junge Frauen nähern sich mir, jede von ihnen mit einem Strauß Blumen in der Hand. Schon hebt sich meine Laune. Ich komme nicht umhin, sie anzusprechen. Anne, Djenna und Priscilla sind Freundinnen und gerade auf dem Weg, ein Sandwich essen zu gehen. Vor Langem hätten sie sich für den Nachmittag verabredet, erzählen sie. Obgleich sie alle im Viertel wohnten, würden sie es doch viel zu selten schaffen, sich zu sehen. Und warum die Blumen? „Waren günstig – und so schön!“

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Erheitert wage ich die paar Schritte rüber auf den Alma-Wartenberg-Platz, hin zu den Bier und Schnaps trinkenden Männern und der Frau. Ob ich ein paar Fragen stellen dürfte, frage ich, und während sich zwei von ihnen zu abfälligen Kommentaren veranlasst sehen und sich wegdrehen, antwortet einer freundlich: klar!

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Warum sie sich hier treffen würden, frage ich und Rico, 1987 nach Hamburg gekommen, sagt, dass „dit ne Jewohnheit sei“. Er wohne in der Nähe, und treffe sich nach Feierabend hier regelmäßig mit Leuten auf ein Bier. Die kräftigen Züge aus dem Flachmann seiner Kollegen lässt er unkommentiert.

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Ob denn jeder dazustoßen dürfe, möchte ich wissen, und wieder sagt er: klar! Und fügt leicht lallend hinzu: „Also manschmal sortiern wa aus, wenn jemand nüscht passt, aber eijentlich sind dit hier imma die Jleischen.“

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Dann klingelt Ricos Handy, ein Modell, das an die späten Neunziger erinnert, doch er drückt den Anruf weg. Schaut hoch, strahlt die Fotografin und mich an, und lacht: „Ihr Zwee seid jetz wischtijer, ne?“

Ein Blick rüber zum Aurel, neben dessen mit Blumen versehenen Kaffeetischchen sich nun, in Richtung Feierabend, eine Menschenschlange vor dem Blumenladen ohne Namen gebildet hat.

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Angebot heute: 50 Tulpen für 8,50 Euro. Mich überkommt jetzt das Gefühl, dass trotz Winter hier so schlecht doch alles gar nicht ist: Wo Schulkinder lachend nach Hause und Eltern mit Kinderwagen spazieren gehen, sich Freundinnen treffen und wo Leute selbst bei Temperaturen um den Gefrierpunkt draußen an mit Blumen gedeckten Tischen sitzen und es diese nebenan in 50-facher Ausführung zum Spottpreis gibt, da kann die Baustelle noch so verlassen, die Autos noch so laut und dunkel, der Himmel noch so grau sein.

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Nein, einsam ist es hier nicht — und die Tristesse, die mich trotz allem ausfüllt, lässt sich, auch das erkenne ich nun, einzig und allein darauf zurückführen, dass sich dieser wolkig-graue Tag jetzt, um kurz nach 16 Uhr, bereits langsam, aber sicher der Nacht hingibt.

Das Team von Mit Vergnügen Hamburg hat sich schon an folgende Orten gestellt und sie multimedial festgehalten: Sternenbrücke, Wandsbek, St. Pauli, Poppenbüttel, Jungfernstieg.

Bilder: Maria Kotylevskaja