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Künstler aus Wilhelmsburg

R.J. Schlagseite, Selbst-Ironiker und Bohemien

 

Annabel Trautwein von Wilhelmsburg Online stellt interessante Kulturprojekte und Künstler von der Elbinsel vor.

„Da kommt der Musiker!“, ruft einer über den Stübenplatz. Sofort ist klar, wer gemeint ist: R.J. Schlagseite, Liedermacher und laut Eigenauskunft einziger Vertreter der „Neuen Wilhelmsburger Schule“. Auch ohne Gitarrenkoffer ist er sofort erkennbar an Hut, Anzug, Ohrring. Und ständig bei der Arbeit, auch wenn es gar nicht danach aussieht. R.J. Schlagseite textet und komponiert, wo ihn die Muse küsst – am Kneipentresen, im Nieselregen, auf dem Klo. So ist auch sein neues Album entstanden. Tod allen Fanatikern ist der Soundtrack eines persönlichen Neuanfangs. Lässige Gitarrenriffs, ironische Texte und schräge Helden sind trotzdem wieder dabei.

Der Liedermacher aus dem Reiherstiegviertel hat sein Leben geändert und eine neue Platte herausgebracht.

Es konnte für ihn nicht weitergehen wie bisher. Jede Nacht Vergnügungssucht, Kneipenluft, Alkohol – so habe er jahrzehntelang gelebt, sagt R.J. Schlagseite alias Ralf Junker. Die Titel auf seinen früheren Platten bezeugen es: Trinkt billigen Wein, meine teuren Freunde oder Auch Maßhalten muss im Rahmen bleiben. Mit Selbstironie ging das immer, aber für ihn wurde es Ernst. „Am härtesten war König Alkohol, ich bin dein Untertan“, sagt er.

Damit ist jetzt Schluss. Lieder mit explizitem Alkoholbezug sind aus dem Liveprogramm gestrichen. „Jetzt, wo ich das Trinken aufgegeben habe, kann ich das nicht mehr glaubwürdig vertreten“, erklärt R.J. Schlagseite. Außerdem wollte er stilistisch etwas neues ausprobieren. Tod allen Fanatikern lebt zwar wie die früheren Alben vom ironischen Blick des Sängers auf sich selbst und die anderen, von Sternstunden des Alltags und dem demonstrativen Bruch mit dem bürgerlichen Dasein. Doch der Sound wandelt sich, weg von der akustischen, zurück zur elektrischen Gitarre – diesmal mit minimalistischem Schlagwerk und mehr Jazz. „Meine Lieder sind alle autobiografisch gefärbt“, sagt R.J. Schlagseite. Der Song Ich will den Schmerz etwa gehe auf eine Sportverletzung zurück. Aus Erinnerungen an seine Teenager-Jahre entstand Mein alter Ego ist Politiker.

Bohemien ist R.J. Schlagseite nach wie vor, nur mit weniger Exzess und Kater. Er stehe jetzt auch vormittags auf, sagt der 46-Jährige. Ein regelmäßiger Job von neun bis fünf sei trotzdem nichts für ihn: „Ich habe das mal gemacht. Liegt mir nicht.“ Der Freigeist lässt sich nicht gern zwingen, auch nicht von den eigenen Ansprüchen. Schon als Kind wollte er Gitarre spielen, flog aber aus der Musikschule – kein Bock auf Tonleiteretüden. Also brachte er sich das Gitarrespielen mit Büchern und Musikkassetten selbst bei. Das reichte, um mit 14 den ersten Bandauftritt zu bestehen. „Ich hatte also schon 30-jähriges Bühnenjubiläum“, sagt er.

Heute ist die Musik Lebensinhalt und Broterwerb zugleich: Er verkauft seine Platten selbst, spielt hier und da einen Auftritt, hin und wieder nimmt er Aufträge für Filmmusik an. Mit dem Underground-Regisseur Henna Peschel etwa, der selbst aus Wilhelmsburg stammt und mit Filmen wie Rollo Aller bekannt wurde, hat er schon oft zusammengearbeitet. Im Streifen Pete the Heat spielt R.J. Schlagseite sogar eine der Hauptrollen: Ralf, einen Schiffbauer mit Hang zum Rock’n’Roll, der zwei weiteren Leistungsverweigerern helfen soll, sich in die Karibik abzusetzen.

Im echten Leben hat R.J. Schlagseite seine Insel schon gefunden. Nach zehn Jahren Wilhelmsburg gehört er zu ihren bekanntesten Köpfen. Beim Musikfestival „48h Wilhelmsburg“ ist R.J. Schlagseite schon seit Jahren dabei, am Samstag den 14. Juni spielt er im Hafenmuseum Hamburg. „Ich war schon hier, bevor es cool wurde“, sagt R.J. Schlagseite, der sich auch Gründer und einziger Vertreter der „Neuen Wilhelmsburger Schule“ nennt. Das Label sei eine Anspielung auf die Trainingsjacken-Bands der „Neuen Hamburger Schule“ und natürlich nicht sein Ernst. „Ich finde es einfach gut zu sagen: Ich stehe für etwas. Auch wenn es ironisch gemeint ist“, erklärt R.J. Schlagseite. Um dem Klischee Genüge zu tun, habe er immerhin im Frühling oder Herbst Trainingsjacken getragen – unter dem Sakko.