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Armut in Hamburg

Frau Klein geht Flaschen sammeln

 

Sie ist 67 Jahre alt und ihr Geld reicht nicht zum Leben. Deswegen sammelt die Rentnerin Frau Klein Pfandflaschen – dafür ist sie jeden Tag auf St. Pauli unterwegs.

„Gleich hab ich die Eins geschafft.“ Ein Blick in den Mülleimer, ein schneller Griff – mit einem triumphierenden Lächeln lässt Frau Klein die Glasflasche in den Plastikbeutel fallen. Ihren richtigen Namen möchte Frau Klein nicht nennen. Einen Euro hat sie nun beisammen, seit knapp zwei Stunden ist sie jetzt unterwegs. Die Sonne brennt vom Himmel, obwohl es noch früh am Morgen ist. Ein warmer Tag, einer, der Lust macht auf Sommer, auf flanieren, auf draußen sein. Frau Klein ist immer draußen, jeden Tag. Doch verweilen kann sie nicht. Nicht hier, nicht in diesem Moment. Sie hat noch viel zu tun, sagt sie. Und läuft. Den Griff ihrer Tüte fest umklammert, den Oberkörper leicht nach vorn gebeugt, geht sie durch die Stadt, vorbei an Schaufenstern mit Bademode und Menschen, die schlaftrunken Kaffee aus Pappbechern hinunterstürzen und die kleine Frau mit der Plastiktasche kaum wahrnehmen. Auch Frau Klein schaut selten hoch, sie muss sich konzentrieren, sie ist auf der Jagd. Ihre Beute: leere Flaschen und Dosen.

Frau Klein ist 67 Jahre alt und Pfandsammlerin.

Auf den ersten Blick wirkt sie jünger, mit den dichten kurzen Locken, der sportlichen Kleidung und der drahtigen Figur. Aber das Alter hat sich in ihr Gesicht gegraben, tiefe Furchen verlaufen von den Mundwinkeln zum Kinn hinunter. Die heutige Strecke kennt sie gut, sie ist oft in Altona unterwegs. Dort mustert sie Hauseingänge und Imbissbuden mit geschärftem Blick, bewegt sich so flink und zielstrebig durch die Straßen, als folge sie einer unsichtbaren Linie auf dem Boden. Bei ihrer Suche befolgt Frau Klein ihre eigenen Regeln. Schnell sein – damit sie genug Flaschen sammelt, muss sie „den anderen“ zuvorkommen, die Konkurrenz ist groß. Nicht stehenbleiben – um ihr Tagespensum zu erfüllen, darf sie nicht schlendern. Nicht betteln – das wäre unter ihrer Würde, sagt Frau Klein. Wenn ihr jemand freiwillig eine Flasche in die Hand drückt, bitte schön, aber darum bitten wird sie nicht. Und: nicht zu tief in den Eimer greifen. Frau Klein ist nicht zimperlich, aber bei der Suche im Müll könnte man sich schon mal „was einfangen“, sagt sie und nickt bedächtig.

Als sie in Rente ging, wusste sie schon, was sie erwartet. Viel habe sie nie verdient, nicht in ihrem früheren Leben als Bürokauffrau. Nach der Heirat brachte ihr Mann das Geld ein, sie blieb zu Hause, irgendwann ging der Mann und Frau Klein begann, wieder zu arbeiten. Mal ist sie Kassiererin, mal putzt sie Toiletten. Nun bleiben ihr 480 Euro Rente, das Sozialamt gibt etwa 100 Euro Grundsicherung dazu. Das Geld reicht gerade eben für die Ein-Zimmer-Wohnung und Essen. Auf St Pauli kann sie noch leben, weil sie in einer genossenschaftlichen Wohnung lebt, wie lange das noch so bleibt, kann sie nicht sagen.

6,2 Prozent der Hamburger Rentner sind auf Grundsicherung angewiesen

Das Schicksal der Seniorin ist nicht ungewöhnlich: Frauen sind in Deutschland besonders von Altersarmut betroffen. Zwei Drittel der 65-Jährigen, die eine zusätzliche Grundsicherung beziehen, sind weiblich, im Durchschnitt bekommen Frauen nur 40 Prozent einer Männerrente. Das geht aus einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) hervor. Und: In keinem anderen Bundesland ist die Altersarmut so hoch wie im reichen Hamburg. 6,2 Prozent der Rentner waren 2012 auf die Grundsicherung angewiesen, Tendenz steigend.

Nun also Flaschen sammeln. Unangenehm sei ihr das nur manchmal, die meisten Leute reagieren mit Gleichgültigkeit, sagt Frau Klein. In einem kleinen Kalender schreibt sie jeden Tag auf, wie viel sie gesammelt hat, „20 Euro pro Woche wären schon schön“. Läuft es an einem Tag schlecht, ist sie an einem anderen länger draußen. Sie notiert auch die Daten von Straßenfesten und Fußballspielen. Die ruhige Seniorin, die nie gerne ausging, kennt nun den Takt der Hamburger Partyszene.

Die Diskussion um die neuen High Tech-Müllcontainer hat sie mitbekommen, für Sammler wie sie ein Problem, denn ein Hereingreifen ist bei den neuen Tonnen nicht möglich. „Überrascht mich nicht“, sagt sie nur und zuckt gleichgültig mit den Schultern. Keine Wutrede, keine Empörung. In der Innenstadt gehe sie ohnehin nicht sammeln – das HVV-Ticket spart sie lieber.

„Sonst guckt die Kassiererin so komisch“

Am Abend ist Frau Klein auf der Reeperbahn. Junges Partyvolk stapft und stöckelt aus den U-Bahnschächten empor, viele schon beschwipst mit Bierflasche in der Hand. Die Plastiktüte füllt sich, ein Imbissverkäufer rückt vier Dosen heraus, ein Euro auf einen Schlag. „Ein kleiner Schatz!“, sagt Frau Klein und nickt dem Mann höflich zu. Wurde die Sammlerin in der Einkaufspassage bewusst ignoriert, so fallen hier schnell die Hemmungen. „Komm Oma, erst austrinken!“ Ein Mann mit umgeschnallten Plastikbrüsten, Junggesellenabschied, die Bierflasche in seiner Hand schwingt wie ein Pendel hin und her.

Frau Klein tut so, als höre sie nicht. Sie greift den Griff ihrer Tasche fester, ihr Blick wird eine Spur grimmiger, der Gang schneller. Bald bricht sie die Suche ab. Nun wird sie ihre Beute noch zum Supermarkt bringen und hoffen, dass die Schlange am Pfandautomaten nicht wieder so lang ist. Wenn sie dann den Pfandbon einlöst, legt sie immer noch eine Kleinigkeit mit aufs Band. Ein Kaugummi zum Beispiel, 50 Cent weniger, das ist es ihr wert. „Sonst guckt die Kassiererin so komisch“, sagt Frau Klein und huscht davon.