Die beste Abwehr gegen den gefühlt schwächsten Sturm der Liga – was kann da schon passieren? Eine Menge – wenn sich der herbstliche Morgennebel nicht aus den Köpfen der Spieler verzieht.
Als ich am Sonnabendmorgen an der Kieler Ostseeküste losfuhr, lag ein Schleier über allem. Der Herbst hatte über Nacht weiße Nebeltücher über die Förde gelegt und die Morgensonne hat inzwischen zu wenig Kraft, sie aufzulösen. Als ich gegen Mittag am Millerntor ankam, sah es so aus, als ob sich der Nebel verzogen hätte. Die Sonne strahlte vom Hamburger Himmel, als sich meine verschlafene Bezugsgruppe auf den Stufen der Gegengerade zum Spiel gegen den SV Sandhausen aufstellte.
„Ob bei dem schönen Wetter heute überhaupt Stimmung aufkommt?“, fragte meine Nebensteherin Anna ein wenig besorgt. Eine Besorgnis, die eigentlich eine wenig getarnte, vorweggenommene Zufriedenheit war – sie machte sich wenig Sorgen. Kein Wunder: Die beste Abwehr der Liga traf auf einen schwächelnden Sturm. Eine klare Angelegenheit, wenn da nicht der unsichtbare Nebel der Überheblichkeit gewesen wäre, der sich auf dem Rasen des Millerntorstadions ausbreitete. Von uns allen unbemerkt.
Die ersten paar Minuten ging es los wie erwartet: Die erfolgsverwöhnten Kiezkicker kombinierten durch die Sandhäuser Spieler, als wären sie Salzstangen. Das Pressing begann schon an der gegnerischen Eckfahne. Das konnte ja was werden. Dann müssen plötzlich unsichtbare Schwaden aufgezogen sein, die ausgerechnet unserem Besten, Marc Rzatkowski, die Sinne vernebelten. Völlig unbedrängt passte dieser auf den Sandhäuser Offensiven Andrew Wooten, als alle seine Mitspieler schon in der gewohnten Vorwärtsbewegung waren. Niemand außer dem schnell schaltenden Kosecki kam mehr entscheidend hinter den Ball. Und so stand es plötzlich 0:1 nach nur fünf Minuten.
Doch es sollte noch mehr Nebel aufziehen. Nur zwei Minuten später muss der Dunst im Hamburger Strafraum so dicht gewesen sein, dass die Abwehrspieler des FC St. Pauli ihre zugewiesenen Gegenspieler nicht mehr fanden, der schlanke Dudziak deckte nur zwei Drittel des baumlangen Jovanović ab und der köpfte folgerichtig, auch wegen der Präzision von Wootens Flanke, zum 0:2 ein. Die Sandhäuser hatten das Loch im Dunst gefunden, das sich ausgerechnet im Strafraum des FC St. Pauli zu befinden schien.
In der Folge spielten die Hamburger auf kurze Sicht. Spielten den einfachen Ball und kamen so zwar zu einer Menge Ballbesitz, aber nicht entscheidend in den Strafraum der Gäste. Die verlegten sich ob der schlechten Sicht darauf, zu verteidigen und sich ab und an auf den Boden zu werfen. Vielleicht war dort die Sicht besser, hängen Nebelschwaden doch immer ein paar Zentimeter über dem Rasen. Der Schiedsrichter missverstand diese schlaue Art, sich einen Überblick und ein wenig Ruhe zu verschaffen, und pfiff so einseitig, dass Anna und mir auf der Gegengeraden bald der Hals qualmte.
Es war aber nichts zu machen: Die Boys in Brown fanden kein Mittel, den Brodel zu vertreiben, auch wenn sie sich redlich bemühten.
Es dauerte bis zur 74. Spielminute, als unser Mittelfeldtalent Maier eine Idee hatte: Er schoss einfach Löcher in den Dampf. Sein wuchtiger Aufsetzer fräste sich tatsächlich durch die Schwaden. Leider hatte der Torhüter der Sandhäuser glasklare Sicht auf das Geschehen und einen guten Tag erwischt, er hielt. Das Einfach-aufs-Tor-schießen half aber, der Nebel lichtete sich merklich. Das fiel auch dem eingewechselte Choi auf, der eine kurze Abwehr des SVS nach einer der vielen St. Pauli-Ecken in der zweiten Halbzeit aufnahm und einfach den eingewechselten Bouhaddouz anschoss, der den Ball mit seinem Gesäß so abfälschte, dass er in der rechten Torecke einschlug.
Die letzten 15 Minuten, so hofften wir, würden eine klare Aufholjagd, an deren Ende sich der FC St. Pauli für seinen ungleichen Kampf gegen den unsichtbaren Gegner, den SV Sandhausen und das Schiedsrichtergespann belohnen würde.
Leider erlosch diese Hoffnung schnell: Buballa stolperte im Strafraum in den Sandhäuser Bouhaddouz und der Schiedsrichter verhängte die Höchststrafe: Elfmeter, nur eine Minute nach dem Anschlusstreffer: 3:1.
Als ein paar Momente später unser vom Pech umnebelter Stürmer John Verhoek den erneuten Anschluss bei bester Sicht verpasste, war das Spiel gelaufen. Sandhausen hatte uns verdient geschlagen.
Ob der Nebel der Überheblichkeit nun verflogen ist nach dieser Niederlage, fragte mich Anna nach dem Abpfiff. Ich zuckte mit den Schultern, erzählte ihr aber nicht, dass ich noch Reste davon gesehen habe. Um den Kopf von Lennart Thy waberte noch etwas grüner fog, den man normalerweise nur auf dem schottischen Teil der Insel findet.