Prügelnde Bewohner, zu viel Müll: Die Unterkunft für Flüchtlinge in einem ehemaligen Baumarkt in Hamburg-Eidelstedt ist umstritten. Wie geht ihr Leiter Emrah Dertli damit um?
Interview: Paulina Loreth
Emrah Dertli lebt seit den 1990er Jahren in Deutschland. Gemeinsam mit seinen Eltern kam er als siebenjähriger Flüchtling aus der Türkei. Aufgrund dieser Erfahrung kenne er sich „in diesem Bereich komplett aus“, sagt er. Seit einem Jahr ist er bei Fördern und Wohnen, Träger von Flüchtlingsunterkünften in Hamburg, beschäftigt. Er arbeitet als kommissarischer Teamleiter in der Notunterkunft Hörgensweg, einem ehemaligen Baumarkt in Eimsbüttel, in dem etwa 800 Flüchtlinge untergebracht sind und in dem es schon mehrmals zu Auseinandersetzungen gekommen ist: Im Dezember gingen zuletzt etwa 60 Bewohner mit Besenstielen und anderen Gegenständen aufeinander los.
Eimsbüttler Nachrichten: Herr Dertli, in Ihrer Unterkunft gibt es eine starke Fluktuation: Ständig ziehen alte Bewohner weiter und neue kommen an, im Eingangsbereich stapelt sich ständig Gepäck. Kommen Sie da überhaupt noch hinterher?
Emrah Dertli: Ja, das klappt soweit gut. Die Bewohner werden mit dem Bus hierhin gebracht, wir quartieren sie dann ein und erklären unser System: wie die Essensausgaben geregelt ist, wo gewaschen werden kann, wo sie sanitäre Anlagen finden, wo die Verwaltung ist, was die Mitarbeiter machen und wo die Ausgabepunkte sind. An Letzteren geben wir ihnen Dinge, die sie brauchen. Also Decken, Matratzen, Betten, Schlafzeug, Hygieneartikel und für Babys Windeln, feuchte Tücher und Babynahrung.
Eimsbüttler Nachrichten: Gibt es Gepäckkontrollen?
Dertli: Wir passen nur auf, dass keine waffenähnlichen Gegenstände in unsere Einrichtung kommen und nichts, das gegen Brandschutzvorschriften verstößt, wie etwa Kochplatten. Alles, was gefährlich für die Bewohner ist, wird rausgenommen, um sie zu schützen. Wir versuchen Gefahrenlagen für die Bewohner zu erkennen und zu beseitigen. Das bedeutet aber nicht, dass wir hier willkürlich irgendwelche Gepäckkontrollen machen.
Eimsbüttler Nachrichten: Wie lange bleiben die Geflüchteten durchschnittlich im Baumarkt?
Dertli: Das ist eine Notaufnahmeunterkunft, das heißt, wir sind der verlängerte Arm von der Zentrale in Harburg. Alle Flüchtlinge, die aus platztechnischen Gründen nicht in die Harburger Poststraße passen, werden transferiert, unter anderem auch zu uns. Hier sind also die Leute, die ganz frisch in Hamburg sind. Die Ausländerbehörde registriert sie hier nochmals und verteilt sie dann über die Stadt. Bis zum nächsten Umzug bleiben die Menschen ein bis drei Wochen hier. Die Leute, die nach dem Verteilungsschlüssel Hamburg zugeordnet sind, werden von uns in Erstaufnahmeeinrichtungen transferiert. Diese haben bessere Standards und Unterkunftsmöglichkeiten als wir. Es kann aber auch passieren, dass einige Bewohner in andere Bundesländer verteilt werden.
Eimsbüttler Nachrichten: Klingt nach viel Bürokratie. Wie sieht ein normaler Arbeitstag bei Ihnen aus?
Dertli: Er beginnt mit morgendliche Zählungen, weil wir damit beauftragt sind, freie Plätze zu melden. In der Harburger Poststraße gibt es einen sehr großen Anlauf und wir sind bestrebt, für Entlastung zu sorgen. Verwaltet werden die Bewohnerlisten vom Unterkunftsmanagement. Es übernimmt die Koordinierung und hat die Verantwortung für die ganzen Abläufe. Die Reinigung, das Catering und der Sicherheitsdienst kommen von außen. Das Sozialmanagement ist für Beratungsangelegenheiten zuständig. Hauptthema ist die Gesundheit. Das Gesundheitsamt Altona sorgt für medizinische Sprechstunden. Wir haben hier Ärzte für eine 5-Tage-Woche, darunter auch Kinder- und Frauenärzte. Zur Versorgung gehören weitere Maßnahmen wie Überweisung an Krankenhäuser oder Facharztpraxen.
Eimsbütteler Nachrichten: Und was machen Sie?
Dertli: Alles, was außerhalb anfällt, übernehmen wir, zum Beispiel werden, falls nötig, Dolmetscher gebucht. Dann beantworten wir Fragen, da die Bewohner vieles nicht wissen können, weil sie das Rechtssystem noch nicht kennen. Eine der meistgestellten Fragen ist: Was ist mit Taschengeld? Als Betreiber sind wir dafür jedoch nicht zuständig. In der Notaufnahme gibt es keine Verteilung von Taschengeld. Das übernehmen Verwaltungsaußenstellen der Bezirksämter. Alle Ankommenden haben ab dem Tag der Registrierung Anspruch auf Taschengeld. Wenn sie es an dem Tag nicht bekommen haben, erhalten sie es nachträglich.
Eimsbüttler Nachrichten: Das wirkt so, als wäre alles geregelt. Es gibt doch auch jede Menge Probleme!
Dertli: Probleme gibt es ja überall, wo Leute in Massen auftreten, das ist nicht nur typisch für Flüchtlingsunterkünfte. Wenn man auf einem Festival mit tausend Leuten ist, gibt’s auch immer mal jemanden, der sich daneben benimmt. Wir versuchen, Religionsdiskussionen oder Diskriminierung aufgrund von Nationalität zu unterbinden. Für uns sind alle gleichgestellt. Keiner wird aufgrund von Religion oder Herkunft bevorzugt oder benachteiligt, das verkünden wir immer. Die meisten Bewohner verstehen unsere Haltung. Wenn sich einer daneben benimmt oder sich diskriminierend verhält, versuchen wir das zu unterbinden und machen deutlich, dass das nicht erwünscht ist. Wir brauchen ein Miteinander und kein Gegeneinander. Wenn es Probleme gibt, reagieren wir, gerade ist das nicht der Fall.
Eimsbüttler Nachrichten: Welche gab es denn in der Vergangenheit?
Dertli: Zu Beginn gab es Wartezeiten, weil viele bauliche Maßnahmen durchgeführt wurden. Jetzt sind wir aber an dem Punkt, dass es eigentlich läuft. Anfangs waren auch die Sanitäranlagen ein Problem, weil das ja hier ein Praktiker-Markt ist und keine Unterkunft. Die Umbauten haben länger gedauert, weil die entsprechenden Firmen momentan überall eingesetzt werden und Sanitärcontainer nicht sofort verfügbar sind. Aber jetzt sind wir in einem guten Ist-Zustand, alles, was wir wirklich benötigen, ist vorhanden. Natürlich ist es immer zu wenig, aber die Bewohner, die gerade bei uns sind, können damit leben.
Eimsbüttler Nachrichten: Bei der Infoveranstaltung zur Notunterkunft Hörgensweg gab es sehr viel Kritik an dem Vorhaben. Bekommen Sie die im Alltag zu spüren?
Dertli: Nein. Unsere direkten Nachbarn sind ein Autohaus und McDonald’s. Mit Herrn Weber vom Autohaus gab es ein Problem wegen der Vermüllung außerhalb, aber wir versuchen da mit unserem technischen Dienst, unserem Hausmeister, zu reagieren. Es ist nie 24 Stunden lang sauber, aber wir sind bemüht, dieses Problem zu beseitigen. Mit den Anwohnern haben wir keinen direkten Kontakt. Wir treffen sie nur bei Infoveranstaltungen. Natürlich hören wir uns ihre Probleme an. Wenn wir sehen, dass es Handlungsbedarf gibt, reagieren wir und wehren nicht ab. Wir versuchen immer, eine Lösung zu finden.
Eimsbüttler Nachrichten: Haben Sie denn Verständnis für ihre Sorgen?
Dertli: Kritik ist nicht immer Kritik. Es gibt berechtigte und unberechtigte. Wie nehmen alles erst mal auf und reagieren als Team. Wir arbeiten sehr motiviert, wir brauchen nicht unbedingt eine Wertschätzung von außen. Es reicht uns, wenn wir die Wertschätzung von unseren Bewohnern bekommen. Wir sind die Leute, die reagieren und handeln. Wir sind nicht für die momentane Situation verantwortlich. Keiner in Hamburg hat das so entschieden. Aber es ist unsere Pflicht, Flüchtlinge, die traumatisiert sind, aufzunehmen. Und, soweit es in unserer Macht steht, die Probleme, die durch ihre Flucht und die Geschehnisse in ihren Herkunftsländern entstanden sind, ein Stück weit zu lösen. Es ist uns bewusst, dass wir keine 100-prozentige Zufriedenheit erreichen werden, weder von unseren Bewohnern noch von der Umgebung.