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Elternproteste

Schluss mit den Streichen!

 

Hamburger Eltern haben ein Lieblingsfach: Protest gegen Lehrer und Politiker. Das nervt. Ein Brief an überengagierte Mütter und Väter.

Liebe Eltern,

vor drei Monaten habe ich begonnen, mich ausführlicher mit Ihnen zu beschäftigen. Als Bildungsredakteur der ZEIT:Hamburg wollte ich Ihr Schulsystem unvoreingenommen kennenlernen. Deswegen habe ich in den vergangenen Wochen mit mehr als hundert Eltern, Aktivisten, Lehrern, Schülern, Behördenmitarbeitern und Wissenschaftlern gesprochen. Und bin nun vor allem: ernüchtert.

Ernüchtert hat mich der scharfe Umgangston in der Debatte um das Abitur; ernüchtert haben mich die geringe Bereitschaft zum Dialog und der Hang zur Gründung immer neuer Bürgerinitiativen, die stets nach dem Prinzip funktionieren: Eltern gegen Politik.

Kürzlich erst  haben Grundschuleltern wieder eine Initiative gestartet, diesmal für die Verbesserung der Ganztagsbetreuung. Ein sinnvolles Anliegen, es hakt in diesem Bereich an vielen Stellen. Nur: Gewerkschaft, Elternverbände und Politik verhandeln darüber seit Monaten. Die Verhandlungen, sagen Teilnehmer, liefen gut. Trotzdem heißt es nun schon wieder: Eltern gegen Politik. Langsam frage ich mich: Warum muss das immer so sein?

Besonders in Erinnerung geblieben ist mir ein Gespräch mit Dietrich Lemke. Lemke ist 75 Jahre alt, er war Lehrer, Gewerkschaftschef, Schulinspekteur, Leiter des Landesinstituts für Schulentwicklung. Und er ist Autor eines Buchs über die Hamburger Schulpolitik. Als ich ihn traf, erzählte er mir, dass er mit der Bildungspolitik frustriert abgeschlossen habe. „Schulpolitik in Hamburg ist eine Politik der Angst“, sagte Lemke. „Es wird nicht gefragt: Was ist der pädagogisch richtige Weg? Sondern: Was werden die Eltern dazu sagen?“

Heute scheint mir: Er hat recht. Spricht man mit Bildungspolitikern, geht es selten um pädagogische Argumente, dafür oft um Wahrscheinlichkeitsrechnung. Die entscheidende Frage ist: Müssen wir mit Elternprotest rechnen – gar mit einer Bürgerinitiative?

Liebe Eltern, deswegen schreibe ich Ihnen. Sie sind eine Macht. Wie wollen Sie diese Macht einsetzen?

Es gibt offenbar eine große Unzufriedenheit mit den Hamburger Schulen. Viele von Ihnen haben mir von ihren Sorgen erzählt – und dem Frust darüber, wie Schulsenator Ties Rabe darauf reagiert. Egal, ob es um G 8, Ganztag, Inklusion oder Stadtteilschulen geht, Rabe argumentiert: Verantwortlich für die Misere sei die Vorgängerregierung. Seit er im Amt sei, habe sich viel getan, aber die Mittel seien begrenzt, und Reformprozesse brauchten halt Zeit. Und, ach ja, für die Umsetzung seien außerdem die Schulen verantwortlich.

Fairerweise muss man sagen, dass Rabe in einigen Punkten recht hat. Aber zu Recht fühlen sich auch viele von Ihnen, liebe Eltern, von dieser leicht überheblichen Art nicht ernst genommen. Und ich sehe mit Erstaunen, wie gewiefte Kritiker wie Walter Scheuerl und Mareile Kirsch in diese Vertrauenslücke springen, indem sie alle realen und weniger realen Fehler im Schulsystem sehr ernst nehmen. Das Problem ist nur: Viele Argumente der Kritiker sind weniger schlüssig, als sie es zu sein scheinen. Ein Beispiel: Es mag einleuchtend klingen, dass viele Schüler gestresst sind und ein Jahr mehr Schulzeit ihnen Stress nehmen würde. Nur: Schüler sind heute zwar gestresster als früher, aber Studien konnten bisher nicht nachweisen, dass der Stress wegen der kürzeren Schulzeit gestiegen ist. Und Experten haben große Zweifel daran, dass G 9 den Stress löst.

Das ist vielleicht das, was mich am meisten ernüchtert hat. Wissenschaftler sind sich relativ einig: Gute Schule hängt von guten Lehrern ab. Nicht die Länge der Schulzeit oder die Klassengrößen sind entscheidend, sondern das Engagement vor Ort. Das heißt: Gute Schule ist ein Miteinander von Eltern und Lehrern, nicht ein Gegeneinander. Leider habe ich nicht das Gefühl, dass diese Erkenntnis bei vielen angekommen ist.

Alle Eltern, mit denen ich gesprochen habe, erzählten mir, dass sie das Beste für ihr Kind wollten – und auch das Beste für die anderen Kinder. Erstaunlich viele Eltern sprachen genau diese Intention aber anderen Eltern ab – insbesondere, wenn diese Lehrer, Mitarbeiter der Schulbehörde oder gar Bildungspolitiker waren. Zweifelsohne gibt es schlechte Lehrer (und schlechte Bildungspolitiker). Mich wundert bloß, dass wir Ärzten und Automechanikern vertrauen, bei Pädagogen aber grundsätzlich zweifeln und unserer gefühlten Expertise vertrauen: In der Schule waren wir ja alle einmal. Eltern haben mir von Elternabenden erzählt, an denen mit dem Anwalt gedroht wurde. Lehrer haben geklagt, dass Eltern immer nur fordern, fordern, fordern: Rechte sehen, aber nie Pflichten.

Als Journalist sträubt man sich von Natur aus, die Politik zu loben. Aber in Hamburg haben die Parteien etwas gemacht, was Bildungsforscher schon lange fordern: Frieden geschlossen, die überflüssige Diskussion beendet, ob ein Schulsystem leistungsstark oder chancengleich sein soll. Sie sind der Erkenntnis gefolgt: Am Ende nützen neue Gesetze und Verordnungen aus Behörden wenig, wenn vor Ort vor lauter Reformen keiner mehr Lust und Zeit hat, guten Unterricht zu machen.

Viele Eltern aber haben keinen Schulfrieden geschlossen, das betont die G-9-Initiative oft. Die Frage ist, ob die Eltern nicht Frieden schließen sollten. Mein Eindruck ist, dass es eine Reihe von Problemen im Schulsystem gibt: die Inklusion an den Stadtteilschulen beispielsweise. Aber worüber wird am lautesten debattiert? Darüber, ob das Abitur nach acht oder neun Jahren besser ist. Und darüber, ob unser Abitur immer einfacher wird und schlechter ist als das in anderen Ländern.

Die Unzufriedenheit mit dem Schulsystem ist nicht auf das Bildungsbürgertum beschränkt. Aber Fakt ist: Das Bildungsbürgertum hat die besten Möglichkeiten, Widerstand zu organisieren. Solange Bildungspolitik machtpolitische Wahrscheinlichkeitsrechnung ist, werden die Interessen dieses Milieus überrepräsentiert. Das ist schlecht für die Teile der Gesellschaft, die keine Stimme haben. Und wenn wir weiterhin so viele Bildungsverlierer produzieren wie heute, zahlen wir langfristig (via Sozialausgaben).

Liebe Eltern, ich frage mich: Verplempern wir unsere Zeit mit Luxusdebatten und unnötiger Konfrontation? Und viel wichtiger: Verplempern wir die Zeit der Lehrer und der Behörde? Es ist doch seltsam: Warum engagieren sich nicht mehr Eltern für ihre Schule, mit den Lehrern ihrer Kinder – anstatt gegen sie?