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Yagmur-Prozess

Tödliche Fehler

 

Yagmurs Eltern wurden zu hohen Haftstrafen verurteilt. Nun muss die Stadt mit sich selbst hart ins Gericht gehen.

Sie hatte um Milde gebeten, hatte bis zum Schluss daran festgehalten, ihre Mandantin habe nichts mit dem gewaltsamen Tod ihrer dreijährigen Tochter Yagmur zu tun: Noch in ihrem Plädoyer vergangene Woche sagte die Anwältin der wegen Mordes angeklagten Melek Y., diese habe „ein mildes Urteil“ verdient.

Das Gericht folgte dieser Argumentation nicht. Am Dienstag verurteilte es Yagmurs Mutter, Melek Y., wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Yagmurs Vater muss für vier Jahre und sechs Monate in Haft. Das Gericht blieb damit unter den Forderungen der Staatsanwaltschaft, die die besondere Schwere der Schuld feststellen lassen wollte, sodass Melek Y. nicht auf vorzeitige Entlassung nach 15 Jahren hätte hoffen können. Es ist ein Urteil mit Signalwirkung: Nicht die Mutter allein trägt Schuld am Tod des Kindes. Sondern auch all jene, die versäumt haben, es zu schützen. Nach dem Ende des Mordprozesses muss also nun die Stadt hart mit sich ins Gericht gehen. Auch wenn viele in der Stadt es lieber nicht ganz so hart hätten.

Seit März bemüht sich ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss (PUA) darum, zu klären, durch welche Fehler die staatlichen Stellen in den Todesfall verstrickt sind. Mitte November hat der Arbeitsstab einen Entwurf für den Abschlussbericht vorgelegt, voraussichtlich am 1. Dezember wird er abschließend beraten. Doch kaum lag der Entwurf vor, ging der Streit los. Die Linke erklärte, ohne das Dokument überhaupt gelesen zu haben, sich an den Beratungen darüber nicht zu beteiligen. Das ist ein erstaunliches Verständnis von parlamentarischer Arbeit. CDU und Grüne kritisieren, der Bericht würdige die Arbeitsüberlastung der Mitarbeiter in den Jugendämtern nicht genug, und kündigten Minderheitsberichte an.

Dabei bestreitet niemand, dass Personalengpässe in den Jugendämtern eine Fehlerquelle sein können und dass deren Mitarbeiter ein hohes Maß an Motivation und Aufopferung aufbringen müssen. Es bestreitet auch niemand, dass viele Jugendämter überlastet sind. Auch deshalb wurden im Juni Stellen aufgestockt. Kritiker bemängeln, das reiche nicht aus. Das mag sein. Aber wer den Fall Yagmur im Gericht und im PUA verfolgt hat, der musste erkennen: Bei der Betreuung des Mädchens wurden dramatische Fehler gemacht – auch dramatische individuelle Fehler.

Wenn eine Sozialpädagogin nach einem misshandelten Kind sehen soll und in dessen dunklem Schlafzimmer das Licht nicht anknipst und die Decke über dem Körper nicht zurückschlägt. Wenn eine Richterin entscheidende Fragen nicht stellt. Wenn Ärzte sichere Zeichen von Misshandlung nicht erkennen: Dann ist es leichter, zu sagen, allein die Rahmenbedingungen seien schuld. Ehrlicher ist die Einsicht: Noch so viel Personal kann nichts daran ändern, dass im jeweils eigenen Ermessen Fehleinschätzungen getroffen wurden. In Yagmurs Fall waren sie tödlich. Das zu sagen ist hart. Aber nach Yagmurs Tod gibt es kein mildes Urteil.