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Elbphilharmonie

Wie die Ratte den Bau der Elbphilharmonie verzögerte

 

Sie haben sich für Hamburg bislang nicht interessiert? Jetzt sollten Sie, denn es gibt die Kolumne „Hamburger Tatsachen“.

Die Ratte Marco Polo lief so schnell sie konnte auf das gewaltige Gebäude zu, das an der Elbe emporragte. Ratten schauen beim Laufen  normalerweise auf den Boden. Sie halten also immerzu Ausschau nach Essbarem, das sie verzehren können, sie suchen nach Höhlen, nach Röhren, Löchern und Rinnsteinen, in denen sie sich verstecken können, sobald Gefahr droht.

Marco Polo aber hielt den Kopf hoch und blickte nach oben, verführt von dem Schauspiel, das sich auf der Glasfassade der Elbphilharmonie zeigte. Himmel, Wasser und Wolken spiegelten sich dort und verschmolzen auf so wundervolle Weise, dass Marco Polo vor Staunen den Mund nicht mehr zubekam. Ein Gefühl überkam ihn, das er noch nie gekannt hatte. Es war wie ein Zittern und Beben, das ihm durch alle Glieder fuhr. Ratten haben keinen eigentlichen Begriff für Schönheit. Aber Marco Polo begann beim Anblick der Oper zu begreifen, dass Schönheit selbst Tiere bis ins Mark und Bein erschüttern konnte. Fast wäre er zuerst von einem Auto überfahren, dann von einem Fahrrad überrollt und schließlich von einem Fußgänger zertreten worden, während er über die Mahatma-Ghandi-Brücke lief. So unachtsam war er. So gebannt war er von der Elbphilharmonie.

Als er am Mauerwerk der Oper angekommen war,  sprang er in die erstbeste Öffnung, die er fand. Keuchend setzte er sich hin. Das Herz raste in seiner Brust.

„Ich sollte mich ausruhen!“, dachte er, der um seine schwaches, zerbrechliches Herz wusste. Aber die Neugier trieb ihn weiter. Er kroch weiter in die Elbphilharmonie. Nach einigen Minuten, Minuten, in denen er sich fürchtete, weil die Röhre unter Schlägen erzitterte, deren Ursprung er nicht kannte, weil ein Zwischen und Fauchen in seine Ohren drang, ein Tosen und Brausen. Schließlich öffnete sich die Röhre. Licht fiel von außen ein. Marco Polo musste die Augen zusammenkneifen. Er steckte seinen Kopf aus der Röhre, langsam und vorsichtig. Er sah Dutzende Männer, die sich emsig am Bau zu schaffen machten. Sie hatten Helme auf dem Kopf. Marco Polo sah jetzt, dass die Oper im Inneren eine riesigen Baustelle war, eine Art Grube voll Menschen und Maschinen, die bohrten, hämmerten und schleiften.

Marco Polo verspürte Hunger. Obwohl er Angst hatte vor diesen behelmten Menschen und all ihren Maschinen, mit den sie hantierten, verließ er die Röhre, um nach Essbaren zu suchen. Er wurde bald fündig. Ein Bauarbeiter hatte sein in Papier eingeschlagenes Pausenbrot auf einer niedrigen Mauer liegenlassen, nebst seinem Helm, den er auch ausgezogen hatte. Marco Polo sprang, das Wasser lief ihm schon im Mund zusammen, auf die Mauer und machte sich über das Brot her. Während er aß, bemerkte er, dass diese Mauer Teil eines riesigen Fensters war, das den Blick auf die Elbe freigab. Marco Polo, inzwischen schon ein wenig darin geübt, Schönheit zu empfinden, Marco Polo also hockte sich hin, das Brot in den Vorderpfoten, und genoss die einmalige Aussicht auf die Elbe. Bisher hatte er noch nie eine Vorstellung dafür gehabt, in welch wunderbarer Stadt er eigentlich lebte, aber jetzt dämmerte ihm, dass es wohl eine der schönsten auf der Welt sein müsste.

Nachdem er das Brot gegessen hatte, wurde er schläfrig. Ohne zu zögern kroch er in den Helm des Bauarbeiters, der verkehrt herum auf dem Mäuerchen stand. Es roch in dem Helm nach Schweiß und Leder, beides mochte Marco Polo außerordentlich. Ihm war ganz behaglich zu Mute. Der Schrei einer Möwe war das Letzte, was er hörte. Dann fiel er in einen tiefen Schlaf.

Den Schrei eines Menschen, das war das Nächste, was er hörte. Er kam von dem Bauarbeiter, der sich nichts ahnend seinen Helm aufsetzte. Kaum hatte er das getan, spürte er, dass etwas Warmes, etwas Weiches und Lebendiges auf dem Kopf saß. Marco Polo begann zu zappeln. Der Bauarbeiter schrie, als hätte ihn ein wildes Tier gebissen, aber Marco Polo hatte ihn nicht gebissen, das war nicht seine Art. Er wollte nur davonlaufen. Beim Versuch, die Flucht zu ergreifen, zerkratzte er dem Bauarbeiter die Kopfhaut. Marco Polo gelang der rettende Sprung auf das Fenstersims. Der Bauarbeiter aber taumelte nach hinten und fiel kopfüber ins Wasser der Elbe.  

Zum Glück konnte der unglückliche Mann schwimmen. Er kam mit dem Schrecken davon. Doch der Sturz hatte Folgen. Gleich nach dem Unfall wurden alle Arbeiten eingestellt. Die Baustelle Elphilharmonie wurde auf Sicherheitsmängel überprüft. Das dauerte Wochen, viele Wochen.

Niemand freilich ahnte, dass eine Ratte namens Marco Polo für die erste der vielen Verzögerungen beim Bau der Elbphilharmonie verantwortlich war. Warum auch? Menschen trauen Ratten nichts zu, was freilich ein Fehler ist, wie diese Geschichte beweist.