Von U-Bahn-Bau bis Olympia-Bewerbung: Plötzlich traut sich der Senat etwas. Wütender Protest ist ihm sicher. Von diesem Streit kann Hamburg nur profitieren.
Mit der Zukunft, diesen Eindruck konnte man in Hamburg in den vergangenen Tagen gewinnen, muss man es ja nicht gleich übertreiben. Könnte schließlich teuer werden. Oder riskant, auf jeden Fall unvorhersehbar. Also reicht doch ein bisschen Zukunft. Vielleicht so 50 Jahre, schlagen die Oppositionsparteien vor und mit ihnen zahlreiche Kritiker, die gerade von immer neuen Nachrichten aus dem Rathaus aufgeschreckt werden. Dort herrscht Unruhe.
Der Senat denkt groß. Auf einmal.
Olympia-Bewerbung? „Hamburg nimmt die Einladung zu solchen Gesprächen gern an“, sagt der Innensenator. Entwicklung des vernachlässigten Hamburger Ostens? Soll künftig im Fokus liegen, sagt der Bürgermeister. Und der Verkehr? Geht es nach der SPD, so erwartet die Stadt ein „Jahrhundertprojekt“: Zwischen Bramfeld und Osdorf soll eine neue U-Bahn-Linie entstehen. Ungefährer Kostenpunkt: 3,8 Milliarden Euro.
Wie bitte? Die Hamburger wussten sich bislang in einer Stadt, deren absolut regierende SPD-Fraktion auf Flyern minutiös sämtliche eingehaltenen Versprechen aufführt. Manche Genossen haben sich die Mühe gemacht, ein Versprechen nach dem nächsten abzuhaken. Es sind 40 Haken. Das ist sehr korrekt. Sehr solide.
Und diese Partei kommt nun mit Jahrhundertprojekten um die Ecke, Visionen gar?
Mit Visionen habe das alles nichts zu tun, kommentierte sogleich der CDU-Fraktionsvorsitzende Dietrich Wersich, vielmehr handele es sich um mangelnde Weitsicht. Grünen-Fraktionschef Jens Kerstan verglich, etwas schief, die U-Bahn mit einem Kaninchen, das Olaf Scholz aus dem Hut zaubere. Medien fragten, wer das alles bezahlen solle. Die SPD hätte es wissen müssen: Die Menschen lassen sich Visionen nicht von oben vorschreiben – was nicht heißt, dass sie sie nicht gut gebrauchen könnten.
Es ist daher ein Gewinn, wenn eine womöglich zu große Idee wie eine U-Bahn (oder eine Bewerbung um Olympia oder ein Aufschwung Ost) überhaupt diskutiert wird. Denn die Frage, die damit einhergeht, ist letztlich immer die: Wie weit darf sich Hamburg entwickeln? Wie viel Geld darf die Zukunft kosten? Und wie viel Zukunft darf es überhaupt sein?
Deutschlandweit gibt es aktuell genug Gründe, Großbaustellen für chaostheoretische Versuchsanordnungen zu halten. Vor Kulissen wie Stuttgart 21, dem Berliner Flughafen oder, auch peinlich, der gescheiterten Münchner Olympia-Bewerbung wäre es für Hamburg ein Leichtes, sich großen Ideen lieber zu verschließen. Die Stadt kann aus der Skepsis aber auch Kraft ziehen – und gerade jetzt zeigen, dass sie es versteht, sich mit ihren Bürgern über die Zumutungen der Großstadt auseinanderzusetzen.
Es ist gut, wenn es Hamburg in der Gegenwart gut geht. Aber es ist schlecht, wenn daraus das Gefühl erwächst, schon der Erhalt des Status quo sei ein Erfolg. Wenn also Stillstand als günstigste Form der Stadtentwicklung betrachtet wird. Von einer solchen Warte aus lässt sich schon ein vergleichsweise kosmetischer Eingriff wie derzeit die Durchsetzung eines Busbeschleunigungsprogramms als Angriff auf Individualinteressen verstehen, der Anwohner trillerpfeifend auf die Straße treibt.
Selbstverständlich, Hamburg soll modern sein und für die Zukunft gerüstet, wer wollte das nicht? Wir alle schreiben Urbanität heute groß, die Renaissance der Stadt und die Folgen dieser Entwicklung sind wichtiger Teil unseres öffentlichen Diskurses. Aber Urbanität bedeutet eben Zumutung. Bedeutet, die Stadt in ihrem eigentlichen Wesen zu ertragen: als Ort der Brüche und Kompromisse. Stattdessen wird gegen die Anstrengungen des urbanen Lebens gestänkert und geklagt, wo es nur geht.
Das gilt nicht nur, aber insbesondere für Entwicklungen in Bau und Verkehr. Man kann das verstehen – nach dem Elbphilharmonie-Desaster dürfte mancher Hamburger bezweifeln, dass die Stadt überhaupt Ingenieure finden kann, die auch nur einen Türknauf richtig zu montieren wissen. Und, um beim Beispiel zu bleiben: Die Art und Weise, auf die nun Baustellen entlang der Buslinien aufgerissen werden, dürfte diese Zweifel noch nähren. Der Ausweg kann aber nicht sein, statt auf weitsichtige Stadtplanung auf gegenwartsverliebte Kleinstlösungen zu setzen.
Nur, damit kein falscher Eindruck entsteht: Wenn Bürger sich organisieren und artikulieren, profitiert das Gemeinwesen. Wenn Verfahren durch Partizipation komplexer werden, ist das der gerechte Preis für mehr Demokratie und Interessenausgleich. Und wenn die SPD nun, zehn Monate vor der Bürgerschaftswahl, die Flucht ins Große antritt, werden die Hamburger zu Recht zwei Fragen stellen: Wem nutzt das? Und: Was habe ich davon?
Gut möglich, dass eine Mehrheit auf beide Fragen keine überzeugende Antwort finden wird. Oder dass in der öffentlichen Auseinandersetzung wichtigere Investitionsfelder der Zukunft ausgemacht werden als Olympia und U-Bahn: Bildung und Wissenschaft etwa, Klimaschutz, gute Integrationskonzepte. Oder auch nur die kleinere Verkehrslösung, die Stadtbahn. Wenn sich der Sinn einer Vision dem Bürger partout nicht vermitteln lässt: Dann existiert er vielleicht nicht.
Das sollte den Senat aber nicht abschrecken, den Horizont weit, notfalls zu weit, aufzuziehen, vor dem über Möglichkeiten gestritten werden kann. Das heißt auch, den Konflikt zwischen allen Polen auszuhalten, die ganze Bandbreite von Größenwahn bis Fortschrittspessimismus anzuhören. Und viele Trillerpfeifen. Am Ende wird Hamburg profitieren, wenn im Großen diskutiert wird: Wie viel Zukunft will die Stadt?